Liebe Andrea,
jetzt ist der Ramadan schon wieder vorbei und ich möchte Dir zum Abschied noch aus meiner Lektüre vom Rand schreiben: Mohamed Mbougar Sarr, der letztes Jahr den Prix Goncourt erhielt – und kannst Du Dir vorstellen, dass ein*e diverse Autor*in ohne Staatsbürgerschaft den deutschen Buchpreis erhält? –, Sarr jedenfalls schreibt Un grand livre n´a pas de sujet et ne parle de rien, il cherche seulement à dire ou découvrir quelque chose, mais ce seulement est déjà tout, est ce quelque chose est déjà tou. – Ein großes Buch hat kein Thema und spricht über nichts, es versucht nur, etwas zu sagen oder zu entdecken, aber dieses nur ist bereits alles, und dieses etwas ist bereits genug.
Im Libanon wird im Mai zu den Urnen gerufen, es ist erschreckend und faszinierend, das Land ist für mich eine Allegorie auf unsere Weltlage: dem Chaos zum Trotz bleibt der Kampf und die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft, wo wir wieder bei dem Gründungsmythos von Europa als Nachfahre einer phönizischen Prinzessin wären. In Frankreich sind sie noch einmal davongekommen, aber was wird bei der nächsten Wahl?
Vielleicht würde es uns sogar gelingen, gerade bei einer Reise im Libanon diese Sorgen um die Zukunft zu verdrängen, denn, so erlebe ich es in meiner Ehe, die Fähigkeit im Hier und Jetzt zu leben, wurden meinem Mann deutlich mehr und intensiver als mir in die Wiege gelegt. Und er selbst behauptet, dass er dies vor allem in seiner Jugend im Bürgerkrieg gelernt hat.
Was uns dort viel mehr zusetzen würde, glaube ich, wäre die Repräsentation der Frau in der Gesellschaft, wo wir wieder beim Anfang wären, „Die Scham, ein Mädchen zu sein, die Scham der Mutter, mit oder ohne Kinder, die Scham der Frau“. Mein libanesischer Schwager hat neulich auf den sozialen Medien ein Video von einem Straßenfest geteilt, ein wunderschönes Fest, bei dem einen das Herz aufgeht, nur sind keine Frauen dabei, als ich mit meinem Mann darüber sprach, musste ich ihn doch als erstes fragen, warum die Frauen nicht zu sehen sind. Nur Mädchen, hat er nicht gesagt, aber wir haben dann eben auch darüber gesprochen, dass er mich habibi nennt. Um auf deine Frage zu antworten: ich habe die männliche Form benutzt, weil ich diese von ihm im Alltag kenne. Seine Erklärung war, dass das männliche habibi eben alles bezeichnet, was einem nah ist, so wie Mütter ihr Töchter mamii nennen, sie praktisch eine Verlängerung ihrer selbst sind, oder Väter ihre Söhne baba. Es hat mich immer zum Lachen gebracht, wenn mein Mann eines unserer bockigen Kleinkinder so nannte, baba (Papa), um es zu besänftigen. Aber ich glaube, es ist das Lachen, das mir heute im Halse stecken bleibt: Die Differenzierung nach Geschlecht und ihren Rollen im öffentlichen Raum ist vielleicht in den Rändern der Welt sichtbarer, aber sie existiert ja auch bei uns weiter, überall, und manifestiert sich in unserem Zentrum in der Verzweiflung, mit der wir darüber diskutieren, ob es nicht besser ist, die Morde und Vergewaltigungen woanders zu akzeptieren, um weiter im Warmen zu sitzen. Aber das alles macht wieder eine neue Büchse auf, liebe Andrea, habib*ti.
Bis bald
Barbara
Liebe Barbara,
dein letzter Satz, Abgrund und Büchse, möchte ich mit einem Vers von Etel Adnan aus ihrem Langgedicht „Arabische Apokalypse“ zwar nicht beantworten, weil das nicht geht, aber vielleicht vorsichtig abklopfen. „Wenn der Wahnsinn der Völker an die Tür klopft, gehen wir hinunter und öffnen … um zu sehen, wie sie ihre meerfarbenen Drachen steigen lassen.“
Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass der deutsche Buchpreis an eine diverse Person ohne deutsche Staatsbürgerschaft vergeben wird. Hierzulande nimmt man noch nicht einmal öffentlich wahr, dass Einsprachigkeit ausgestorben ist. Und hierzulande gab es für diese Autor*innen den Chamisso-Preis.
Für meinen letzten Brief an dich habe ich mich auf Habibti-Recherche begeben. Und die Stimme meiner libanesischen Großmutter noch einmal heraufbeschworen, Habibi, sagt sie und meint mich, natürlich. Binti, und dann Abu Amin. Ich schrecke auf. Abu Amin? Wer war dieser Abu Amin? Dein Vater, mein Kind, sagt Großmutter. Sie sitzt auf dem Boden und liest grüne breite Bohnen. Ich sehe ihre grauen staubigen Fußsohlen, während die Bohnen den Topf abklopfen. Unvorsichtig. Papa, sagt sie. Ich stehe auf und gehe auf das Dach. Papa = Abu Amin. Da steht mein Onkel und erklärt mir Dein Vater ist Abu Amin. Der Vater von Amin. In der Ferne ist ein meerblauer Drache. (Du weißt, dass Eltern nach dem Erstgeborenen, immer Sohn, benannt werden.) Der Drache kommt näher und faucht. Es gibt aber keinen Amin. Sage ich zu Onkel Khaled. Es gibt nur mich. Mein Vater ist Abu Andrea, sage ich. Der Onkel beinahe erschreckt. Nein, sagt Khaled. Amin kommt. Habibi Andrea, Amin kommt. Dein Bruder kommt. Liebling kommt. Ich sehe keinen Amin, sah ihn nie, aber der meerfarbene Drache hat sich Zutritt zu meinem Kopf verschafft.
Mein Vater war der älteste in der Familie, der erste im Dorf, der nach Europa ging, und da wurde es nicht akzeptiert, dass er keinen Sohn hatte. Also gebar man diesen in der Zukunft, in Gedanken, in der Sprache und in der Fantasie. Für mich lautet das gespenstisch: Ich habe einen Bruder, auch wenn ich keinen habe. Einen Habibi-Bruder. Weil die erstgeborene Tochter niemals genug ist. Weil die erstgeborene Tochter nicht möglich ist.
Um nicht verrückt zu werden, brauche ich Stimmen wie die libanesische Journalistin und Schriftstellerin Joumana Haddad, die eine andere Perspektive auf diese Wirklichkeitsverdrehung hat. Sie behauptet, dass die Mehrheit der Araber „es sich in einem Gespinst aus Lügen und Illusionen bequem gemacht hat“.
So wohnten etwa mein Onkel Chaled und einige andere Mitglieder meiner arabischen Familie in der Illusion, es gäbe einen Sohn. In irgendeiner nahen Zukunft.
„Araber zu sein bedeutet, dass man sein Leben, seine Geschichten unterdrücken, im Zaum halten und verschlüsseln muss, dass sie von den bestialischen Hütern der Reinheit alles Arabischen für wohl befunden werden und diese die Gewissheit haben, dass das zarte arabische ‚Jungfernhäutchen‘ unbefleckt von Sünde, Scham, Makel und Entehrung bleibt.“, schreibt sie in ihrem Essaybuch: „Wie ich Scheherazade tötete“.
Aber ich schweife ab.
Vielleicht ist die Frage von Geschlecht im Liebling ja gar nicht von Bedeutung, aber irgendetwas sagt mir, dass es zutiefst mit dieser Scham, ein Mädchen zu sein, korrespondiert. Deshalb habe ich mich umgehört und nach dem Blick der arabisch-deutschen Community auf das Wort habibti gefragt. Überrascht hat mich, dass ausschließlich die Deutschlibanes*innen, Cousin und Kusine etwa, das Wort zwar kennen, aber nur die männliche Form benutzen. Alle anderen, meine tunesisch-deutsche Freundin aus Düsseldorf und der junge ägyptisch-österreichischer 13-jährige Buchblogger aus Wien etwa verwenden und hören habibti. Unser syrisch-deutscher Kollege Jabbar hat mir auch gleich einen Link zu einem Soundtrack geschickt als Beweis.
Habibti, meine Kleine, schreibt Jabbar, hieße das Lied.
Habibti. Vielleicht ein Schlüssel, heute aber der Schluss.
Wir sehen uns, Andrea