Etwas von Schiefer. Texte zur Geburt

Menschen werden geboren. Menschen gebären. Warum klingt das Wort „gebären“ in unseren Ohren so vulgär? Nein, nein, das ist keine persönliche Marotte von uns! Kann doch kaum Zufall sein, dass Gynäkolog*innen, Hebammen, Bekannte fragen: „Und, wo lässt du entbinden?“ statt: „Wo willst du dein Kind gebären?“ Die krasse seelische und körperliche Arbeit, die eine Geburt ist, findet keinen adäquaten Ausdruck im Alltagsdiskurs. Sie ist ein Tabu, Anarchie. Macht- und Ohnmachtsspielchen ranken sich um sie. Eine Geburt ist mindestens so bahnbrechend, so metaphysisch, so voller Dornen und Blüten wie die ganz große romantische Liebe. Wir brauchen mehr literarische Texte zum Thema Geburt! Es ist in der Literatur unterrepräsentiert. Menschen, die geboren haben, sind im Autor*innenolymp unterrepräsentiert. Jesus (Christ Superstar), sagt man, gab seinen Leib und sein Blut für die Menschen, ist gestorben und nach drei Tagen wieder auferstanden. So wie jede Frau*, die gebärt. Was alles gehört zur Geburt? Erzählungen über das eigene Zur-Welt-Kommen. Die rastlosen Tage und Wochen davor, die Zeit danach. Ein Ausnahmezustand, der länger als nur ein paar Stunden dauert. Die erste Text-Reihe von Other Writers Need to Concentrate, in der sich unsere Autor*innen einem gemeinsamen Thema widmen, dreht sich um die Geburt. Um das, was daran „blau“ ist. Warum blau? Lest selbst!

vom aufblauen von Simone Scharbert
Geburt von Laura Vogt
Alles ist Körper … von Eva Brunner
Nach jeder Wehe … von Julia Weber
PoetinnenTreffen von Barbara Peveling
Dein erstes Geschenk … von Linn Penelope Micklitz

Dein erstes Geschenk …

… ist ein blaues Deckchen. Du bist dreiunddreißig Minuten alt, als ich das Päckchen öffne, das uns lächelnd die Hebamme reicht.

Wir wickeln dich jeden Tag in das Deckchen ein, es ist weich und dehnbar. Jeden Abend ziehe ich dir das Deckchen über die Augen, und du drückst es dir mit deinen Fäusten ganz fest ans Gesicht, bis du eingeschlafen bist.

Du liegst nass und bewegungslos auf dem Boden, auf dem ich hocke, atmest still. Ich greife nach dir, ziehe dich hoch, drücke dich an meine blanke Brust, endlich der Schrei. Langsam färbst du dich ein, das Blau verschwindet.

Das Blau in deinen Augen bleibt. Es ist dunkel wie Meerwasser und hat an manchen Tagen etwas von Schiefer. Du siehst aus wie dein Vater, nur die Augen sind von mir. Wenn ich dich halte, blicke ich mir aus dem Gesicht eines anderen entgegen.

Ein Beitrag aus der Reihe Etwas von Schiefer. Texte zur Geburt.

PoetinnenTreffen

Den sich wölbenden Bauch verbarg ich unter weiten Hemden. Vielleicht war ich die erste Schwangere, die einen Poetry-Slam gewann. Der blaue Renault Twingo war ein Geschenk, kein Ersatz für einen Partner. Poetinnen waren es schon, solche, mit denen Schreiben ging und Lesen und Teetrinken bei Kerzenschein. So eine war S. Sie sagte:
– Ich bin bei der Geburt dabei..
Den Twingo ließ ich am Studienort, genau wie alle Babysachen, keine bösen Geister wecken bei dieser letzten Reise.
Drei Uhr morgens, die Stimme klang nicht mal verschlafen.
– Können Sie bitte eine Textnachricht an S. verschicken?
– Selbstverständlich, welche?
– Ich habe einen Blasensprung!
Die Frau am anderen Ende der Leitung räusperte sich und tippte.
– Ich wünsche gute Besserung.
– Das ist keine Krankheit!
Eine Wehenwelle riss mich mit, ich wunderte mich über meine Kraft, noch Worte zu finden.
S. setzte sich in den blauen Twingo und fuhr die 700 km ohne Pause. Mein Poetenkind wurde eine halbe Stunde nach ihrer Ankunft geboren.

Ein Beitrag aus der Reihe Etwas von Schiefer. Texte zur Geburt.

Nach jeder Wehe …

… habe ich Baumwipfel gesehen. Jedes Mal, wenn der Schmerz vorüber war, schwebte ich über einem unüberblickbaren Wald, weit und weich, unendlich die Baumwipfel der Blautannen. Sie gingen im Wind hin und her.
Nach jeder Wehe, sagte ich, ich habe die Baumwipfel wieder gesehen. Wie gut, da bin ich froh, sagte er neben mir und versuchte die gleichen Baumwipfel zu sehen. Wie sahen sie aus? Fragte er. Sie waren weich, sie bewegten sich im Wind, hin und her, vielleicht auch im Wasser, im Gang der Wellen, hin und her. Sie waren viele, sagte ich, ich sagte das durch viele Stunden. Wir sind auch viele, sagte er und drückte seine Handflächen an meinen Rücken. Jetzt, die Wipfel. Sagte ich. Gottseidank, sagte er.
Wir versuchen alles, was Familie ist, zu teilen. Ich und er.
Nicht alles ist teilbar. Wissen wir.
Das nicht Teilbare versuchen wir zu beschreiben. Das ist dann auch unser Beruf.
Eine Möglichkeit das Unteilbare zu teilen.

Blaue Baumwipfel zum Beispiel, nach Wehen, die hin und her gehen im Wind.

Ein Beitrag aus der Reihe Etwas von Schiefer. Texte zur Geburt.

Alles ist Körper …

Alles ist Körper.
Nie war mein Körper wichtiger.
Gleichzeitig ist er Zweck.
Heute soll er ein Kind gebären.
Es ist mein Körper, noch wohnt das Kind dort.
Deswegen ist es auch nicht mein Körper.
Er ist verwandelt, zum Haus geworden.
Heute soll alles zusammenpassen.
Mein Wille, der Wille des Kindes.
Die Programme unserer Körper.
Alle um uns herum sollen helfen.
Erkennen was hilft, vermeiden was stört.
Ihnen muss ich meinen Körper geben.
Meinen Willen, mein Vertrauen.
Dabei das Zentrum bleiben.
Ein Akt so fragil wie gewaltsam.
Endlich ist es so weit, ein Übergang.
Ich bin nicht überrascht, habe gewartet.
Lange gewartet, endlich passiert das Theoretische.
Jetzt ist alles Praxis.
Noch soll ich mich gedulden.
Der Badezusatz ist blau. Blau für Beruhigung.
Später werden die Farben andere sein.

Ein Beitrag aus der Reihe Etwas von Schiefer. Texte zur Geburt.

Geburt

Es ist Nacht, das Haus still, ich habe keine Lust, ins Spital zu fahren, schwimme im Blau des Zimmers; Tapete, Bettwäsche, alles blau; und ich weiss, dass das nicht stimmt, dass da im Grunde alle Farben sind, aber in mir fliesst es blau, und manchmal stockt mein Atem – in meinem Bauch brennt’s blau; ich fühle, wie ich mich weite, wie ich Platz schaffe für das Kind.

Es ist Tag, das Haus still, die Vorhänge gezogen, draussen spielt der Grosse mit Freunden; das Sofa haben wir mit Leintüchern ausgelegt, darunter eine Plastikfolie gespannt; die Tücher sind gelb, ich fühle dieses Gelb, überall, auch an meiner Haut und in meinem Bauch – die Bewegungen fliessen wie Licht, es ist heiss, ich atme Platz auch für dieses Kind.

Ein Beitrag aus der Reihe Etwas von Schiefer. Texte zur Geburt.

vom aufblauen

es ist der rechte arm. genauer: der rechte unterarm, die stelle kurz vorm ellbogen. ein seltener ort sei das. sagen sie. zu ihr. später zu mir. ungewöhnlich. das zähe der zeichnung, des geäderten. der verlauf unter der haut. nahezu kreisförmig. von storch, von biss keine spur. im kreißsaal. dass es sich verwachsen würde, sagen sie. wie sich so vieles verwächst. dass es in mich wächst, leise weiter wuchern, sich ausstrecken wird, das sagen sie nicht. dass ich mich gewöhnen, die zeichnung vergessen werde. sie immer mit mir trage. mal mehr, mal weniger sichtbar. dazwischen: ein aufblauen. das erschrecken der kinder. ob ich mich verbrannt hätte. mich angestoßen. ob es eine narbe sei. oder nur ein blauer fleck. ob es wehtun würde. ihr abwarten, ihre neugier. mein verneinen, ihr annähern. ihre finger und wie sie vorsichtig die linie nachfahren. immer wieder. ihre stimmen darüber streichen, zartes. wörter malen. großbuchstaben. sprache entbinden.

Ein Beitrag aus der Reihe Etwas von Schiefer. Texte zur Geburt.