Jahrelang

Ein Jahr sind wir zu Hause, ein Jahr zu Hause mit unseren Liebsten. Wir haben es uns zwischen den Zahlen gemütlich gemacht, den morgendlichen Zahlen aus den Radiogeräten, die heutigen Infektionszahlen, Inzidenzwerte, der steigende, der fallende R-Wert. Wir backen Brot, wir basteln uns die Finger wund und sind dauergestresst und dauermüde von der ganzen Heimeligkeit, und mit jeder Radiomeldung versinken wir noch ein Stück tiefer zwischen den Decken und Kissen. Plötzlich gibt es da diese neuen Worte, systemrelevant, pandemiemüde, Cluster, Coronaleugner, mRNA, und es gibt wieder neue Serien und neue Podcasts und weitere Formate, um zu verdrängen, was ist.
Die Kinder schrumpfen hinter ihren Endgeräten. Es wird empfohlen, eine halbe Stunde Medienkonsum am Tag, ha ha ha, das ist ein guter Witz, sonst bekommen sie viereckige Augen, verlernen zu sprechen und verblöden. Aber das Kind hat null Bock auf den einhundertachtundfünfzigsten Waldspaziergang, obwohl die Sonne scheint, es hat Bock auf seine Playlist, auf Bibi & Tina und Nico Santos, und manchmal, da schmuggle ich ihr etwas französischen Rap dazwischen, aber auch dazu tanzt sie nach kurzer Zeit vor dem Spiegel, Move um Move, eine halbe Stunde, nicht länger, hörst du, ja ja, und wumms fliegt die Tür zu.
Wenn Kinder jetzt plötzlich auffallen, dann fallen sie auf, weil sie stören. Weil sie wegbetreut werden müssen. Das hatte irgendwie niemand auf der Rechnung. Seit einem Jahr drehen wir uns alle im Kreis, seit einem Jahr hören wir die wohlgemeinten Appelle, wir sollen uns gefälligst zusammenreißen und Opfer bringen, wir sollen auch im Homeoffice unsere Tabellen ausfüllen und dabei unseren Kindern liebevoll und zugewandt begegnen, selbst Schuld, du hättest ja keine Kinder, du hättest ja nicht müssen, heute muss keiner mehr. Und so wird jede Wohnung zu einem eigenen Planeten, zu einem eigenen, kleinen Ökosystem. Manchmal erinnern wir uns daran, wie wir uns früher besuchten und näherkamen.
Mit unseren Liebsten zu Hause, eine Gemütlichkeit, die uns zu Kopf steigt. Kopf raus, Kopf schütteln, es wird wieder wärmer.