Es stapelt sich

„So, und jetzt gehen wir mal durch die Stapel, die Sie mitgebracht haben, ja? Also, ich meine: Wir gehen sie jetzt richtig durch. Schauen wir, was Sie so dabei haben, wie das bei Ihnen aussieht“, sagt die Frau vom Aufräumseminar. Wir sind zu fünft, und alle scheinen bisschen normal und bisschen verrückt, die übliche Mischung. Unsere Aufgabe im Vorfeld war, einfach „irgendeinen Stapel bei Ihnen zu Hause zu schnappen“ (ja: zu schnappen) und in das Seminar mitzubringen. Dann würden wir jeden Stapel durchsehen und versuchen, ihn „auseinanderzunehmen und zu reduzieren. Ballastbefreiung nenn ich das immer“, sagt die Leiterin und kichert.
Okay, ich habe einen richtig großen Stapel mit; ich hab den größten. Eine hat gar keinen mit („Ich habe da schon so ein System, das -“, ich hab nicht zugehört), die anderen ziemlich kleine. Ich verdächtige sie, vorher ihre Stapel sortiert zu haben. Manche schauen so schuldbewusst.
„So, dann fangen wir mal mit Ihnen an, Frau I.“, zwitschert die Seminarleiterin.
„Beginnen wir damit, dass ich jedes Blatt, oder, äh, Objekt in Ihrem Fall, in die Luft halte, so dass es alle sehen, und dann sortieren wir, was Sie behalten sollten und was nicht. Also, das hier ist …“
„Jo, das ist ein Rossmann-Gutschein, also, genauer gesagt, sind es drei, weil ich sie aus einer Papiertonne gefischt habe, da guckten sie so raus, und unser Kind liebt diese -“
„Gut, Frau I., also das legen wir hier zur Seite, auf den Behalt-ich-Stapel, also das ist ja bares Geld, solche Coupons, da bin ich ja fast neidisch“, und sie kichert wieder und ich mag das nicht, weil kichernde Seminarleiterinnen so ein blödes Klischee sind.
„Machen wir weiter, das hier: Ein Schreiben von der Rentenversicherung, und das hier: ein Teebeutel mit Moomin-Motiv.“
„Den hat mir Su geschenkt!
„Und das hier: Bunte Umschläge, ein Der-kleine-ICE-Kartenspiel, eine Broschüre des Residenz-Verlags-“
„Da veröffentlicht meine Freundin ihren ersten Roman.“
„Dann sehe ich hier: Kopien mehrerer Texte zu Max Horkheimers Biographie – warum interessiert Sie das überhaupt?, sehr viele Quittungen, altes Geschenkpapier, Zettel mit Wortfetzen, noch mehr Zettel mit Wortfetzen, bunte geknüllte Blätter, auf denen ein bisschen was gemalt ist, die aber auch ausgeschnitten sind, in der Mitte -“
„Da haben wir so was gebastelt, das geht so: Sie nehmen -“
„Frau I., Sie müssen schweigen, solange wir das hier durchgehen. Hier ist also noch ein Buch von Frigga Haug, lustiger Name, aber auch eine Kinderzeichnung und dann so ein in ein Tütchen abgepacktes Riemchen oder so.“
„Ja. Ich schweige ja schon, aber das ist dieses Teil da von dieser Tasche, total praktisch, die kann man, wenn man zum Kindersport geht …“
Alle gucken etwas betreten, aber ich weiß nicht, warum.
Die Frau vom Aufräumseminar holt Luft, schaut mich mit ihrem „direkten Blick“ an, den sie sicher lange eingeübt hat mit ihrer Supervisorin, und sagt: „Frau I., Sie sind doch offenbar eine gebildete Person, Ihren ganzen schlauen Büchern hier nach zu urteilen. Dann kennen Sie ja sicher den Leitsatz: Das äußere Chaos spiegelt das innere; oder: Ihr Zimmer ist Ihre Seele.“
„Ich hab kein Zimmer.“
Wieder sind alle peinlich berührt, und wieder weiß ich nicht warum. So schräg ist es doch nicht, kein eigenes Zimmer zu haben, oder? Das sind doch bestimmt alles Wessis von 68er-Eltern, die hatten sicher „Offenes Wohnen“ und keine Türen und so. Oder? Oder nicht?
„Also, Frau I. Das geht auch ohne eigenes Zimmer, irgendwo werden Sie schließlich wohnen“, und sie ist fast ein wenig wütend, als würde sie anfangen zu bezweifeln, ob ich überhaupt ein Dach über dem Kopf habe, und ich fange an, diese ihre Einstellung entlang von Vorannahmen über Menschen zu analysieren, woher dieser Bias kommt, dass alle Menschen in Zimmern wohnen müssen, jedoch geht es weiter, „und um Ihre Seele zu entschlacken, sollten Sie mit dem Wegwerfen anfangen. Wählen Sie eine Sache aus, die Sie jetzt sofort auf den Wegwerfstapel legen.“
Was soll ich nur tun? Alle denken gewiss, ich sei Messie. Ich schlucke.
Ich sage: „Okay … ich wähle den einen Rossmann-Coupon“, und warte darauf, dass Frau Kichererbse vor Empörung umfällt.