Ei

Eines Tages trat ich aus dem Haus und wünschte mir ein Kind. Ich sah in die Sonne, direkt in die Sonne hinein und dachte, ich brauche mich wieder mehr als Haus, ich brauche ein Kind, das in diesem Haus mit mir wohnen kann. Keine Reisen in das ländliche Rumänien, keine Kunstprojekte ohne Geld und mit vielen selbstgedrehten Zigaretten, keine aufreibenden Nächte, keinen Kater danach, neben mir im Bett liegend am Morgen, der nach Gin riecht. Ich hatte dieses Bild in meinem Kopf, ich mit kugelrundem Bauch, ein Kleid mit nettem Muster tragend, es ist Sommer und ich falte die Hände auf dem kugelrunden Bauch und ich gehe still und in mir ruhend über einen Kiesweg hinweg dem Institut entgegen, an dem ich studiere. Immer nur dieses eine Bild. Der Bauch, ich, das Muster auf dem Kleid und die Finger am Bauch und das Kies, das Geräusch der Kieselsteine unter meinen Füssen. Dann wurde ich schwanger; und ich fiel aus mir heraus, lag wie ein ausgelaufenes Ei am Boden.

Ein Beitrag aus der Reihe in dir menschen sehen – Texte zum Kinderwunsch.

Wer sonst

Wenige Dinge nur habe ich aus purer Freude gemacht oder aus einem einfachen, instinktiven, dringenden Wunsch heraus. Ein Kind zu bekommen gehörte zu diesen Dingen, die sich nicht instrumentalisieren oder pragmatisch mit Vor- und Nachteilen angehen ließen. Das heißt, es ließe sich natürlich eins bekommen, um in die Altersvorsorge zu investieren, um eigene Komplexe daran abzuarbeiten, diktatorische Neigungen auszuleben, aber sowas kam uns nie in den Sinn. Ich weiß nicht, warum ich, warum wir ein Kind wollten, aber, mal ehrlich, wer sonst, wenn nicht wir.

Ein Beitrag aus der Reihe in dir menschen sehen – Texte zum Kinderwunsch.

in dir menschen sehen – Texte zum Kinderwunsch

Woher kommt er, dieser Kinderwunsch? Wann trat er zum ersten Mal auf? Ist er egoistisch, ein Mittel der Selbstverwirklichung? Oder eher ein Ring uns zu knechten in alle Ewigkeit? Kann man auch ohne ihn Kinder bekommen? Und wieso bleibt er – trotz allem – lebendig, dieser Wunsch? Oft auch nach dem ersten Kind? Unter anderem diesen Fragen stellen sich die Autor*innen Clemens Böckmann, Dmitrij Gawrisch, Barbara Peveling, Slata Roschal, Marina Skalova, Silke Sutcliffe, Laura Vogt, Julia Weber und Sebastian Weirauch in der vorliegenden Reihe. Mit einer Vielzahl von Perspektiven versperren sie sich jeglicher einfachen Antwort. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass Leid und Glück von Elternschaft nicht rationalisierbar sind, nicht vermeidbar oder planbar. Sie treten immer überraschend auf.

Wovon wir träumen von Sebastian Weirauch
Wer sonst von Slata Roschal
Ei von Julia Weber
Doch warum nur gebären wir Kinder … von Clemens Böckmann
Ausgewandert von Silke Sutcliffe
Kinder & keine Kinder von Laura Vogt
Wenigstens keine Angst von Dmitrij Gawrisch
Traumsonde von Marina Skalova
wunschliste kinderkriegen. va te faire foutre von Barbara Peveling

Wovon wir träumen

Früher dachte ich, unser Kinderwunsch entspringe einer gutartigen Quelle. Als Paar fröne man den Wonnen des gemeinsamen Egoismus. Mit Kind komme die Zeit der nicht immer gleich verteilten Verantwortung. Mittlerweile jedoch glaube ich, dass unser anhaltender Kinderwunsch auf etwas Tieferes zurückgeht; auf den Drang, die anderen Bewohner dieses Planeten allmählich mit Duplikaten unserer selbst zu ersetzen. Mag es statistisch auch noch so aussichtslos erscheinen – wie wenn Tempelpriester auf bessere Ernten in kommenden Mondzyklen hoffen, weil sie mit Obsidiandolchen Herzen herausschneiden. Doch wir glauben daran. Und wir träumen in der Nacht, wenn unser Kind im Schlaf zuckt, von einer uns im höchsten Maße spiegelbildlichen Erdbevölkerung.

Ein Beitrag aus der Reihe in dir menschen sehen – Texte zum Kinderwunsch.

Rarely Asked Questions: Katharina Picandet

Was macht Elternschaft zu einem literarisch interessanten Thema?
Katharina Picandet: Literarisch ist es mit der Elternschaft oder Familie vielleicht wie beim guten Sozialkrimi: Oft zeigt sich in den konkreten einzelnen Fällen sehr anschaulich, woran es in der Gesellschaft im Ganzen fehlt, wo die Probleme liegen. Kinder zu bekommen oder nicht, mag eine individuelle Entscheidung sein, aber die Konsequenzen sind immer gesamtgesellschaftlich: Welche Werte vermitteln wir der nächsten Generation, woher kommen die eigenen moralischen Vorstellungen, wie kann ich verwirklichen, was ich mir wünsche, wo liegen die Konfliktlinien, innerhalb der Familie und außerhalb, usw. usf. Und weil nun mal jede*r Familie hat, ob man nun Eltern hat oder ist oder beides, ist das so ein unmittelbar nachvollziehbares Sujet mit hohem Identifikationspotenzial – und nahezu grenzenlosen literarischen Ausgestaltungsmöglichkeiten.

Stehen schreibende Väter vor anderen Problemen als schreibende Mütter?
Katharina Picandet: Von arbeitenden, also auch schreibenden Frauen wird tendenziell wohl eher erwartet, dass sie Kinder und Arbeit unter einen Hut kriegen und im Zweifel eher die Arbeit zurückstecken als die Kinder. Ich glaube nicht, dass männliche Schriftsteller oft gefragt werden, wie sie die Doppelbelastung denn nur organisiert kriegen. Es gibt ein schönes Interview mit Nathacha Appanah, in dem sie sagt, wenn schreibende Väter auf genau diese Frage antworten, sie hätten „großes Glück“ gehabt, sei das in der Regel nur eine schöne Umschreibung für „Ich habe eine wunderbare Frau“.

Kann der Literaturbetrieb familienfreundlicher gestaltet werden, und wenn ja wie?
Katharina Picandet: Ich glaube, der Literaturbetrieb gehört sogar schon zu den familienfreundlicheren Branchen, immerhin arbeiten dort ja mehrheitlich Frauen. Aber hier gilt wie in allen Branchen: Solange gesellschaftlich erwartet wird, dass „wirklich engagierte“ Menschen 24/7 arbeiten können und sollen; solange der fitte, agile Allrounder das bewunderte Ideal darstellt und man auf das Erreichen der Deadline um 2.00 Uhr nachts noch stolz ist, weil man unter dem Zeitdruck nicht zusammengebrochen ist – solange nicht stattdessen gemeinschaftliches Arbeiten, geteilte Verantwortung, Priorisierung von Fürsorge in einer Gesellschaft auch kulturell als wünschenswert durchgesetzt sind, solange bleibt auch ein Betrieb mit Halbzeitjobs, Flexibilität, Kinderkrippe, verständnisvollen Kollegen und Vorgesetzen etc. pp. eine einsame Insel der Glückseligen. Schön – aber reicht das?

Katharina Picandet, seit 20 Jahren im Kollektiv der Edition Nautilus, Hamburg. Ihre Kinder kamen 2003, 2005 und 2009 zur Welt.