Ich, wir

Heute Morgen fuhr ich ins Atelier ohne Fahrradhelm. Hier schreibe ich nun ein paar Stunden lang.
Gestern Nachmittag fuhr ich ausnahmsweise mit den Kindern im Anhänger ins Atelier und trug einen Fahrradhelm. Im Atelier haben wir gemeinsam einen Tee getrunken.
Wir, das waren, beim Teetrinken: 2 Kinder und ich – eine Mutter mit ihrem Nachwuchs.
Wir, das sind, zu Hause: 2 Kinder, 2 Erwachsene – eine Familie.
Wir, das sind eigentlich: 2 Kinder, 3 Erwachsene; aber nicht alle leben im selben Haushalt – eine Familie?
Wir, das sind: 4 Familien, 3 Einzelpersonen – eine Genossenschaft.
Wir, das bin ich mit meinen Figuren im Atelier – eine Gemeinschaft?
Ich fahre täglich ins Atelier, am liebsten alleine.
Das Atelier: Ein einfacher Raum; zerschlissener Teppich, ein rotes Bücherregal, ein grosser Schreibtisch, Blick auf eine Autogarage.
Im Sommer ist es heiss hier drin, im Winter ist es kalt, aber das Atelier ist mir Raum genug. Ist mir Denkraum. Ist mir Spielraum. Ist ein Ich-Raum. Ist ein Wir-Raum. Leute kommen und gehen. Kinder kommen und gehen. Figuren komen und gehen. Buchstaben kommen und gehen. Ich bleibe gerne für mich.
Ich werde bald nach Hause fahren ohne Fahrradhelm. Am Tisch werden die beiden Kinder sitzen, mit von der Tomatensosse rotverschmierten Mündern. Der Papa der Kinder schöpft mir eine Kelle Nudeln auf meinen Teller.
Ich wusste nicht immer um die breite Variabilität des Wortes „Wir“.

nachflug

da ist er wieder

am Himmel
schraubt sich der Turmfalke
nach oben
lässt sich fallen

flankiert von einer Krähe
und
einem Rotmilan
Sie zanken

um die Beute
jeder für seine Küken

Traum III

Anne träumt: Sie schließt das Fahrrad vor dem Kindergarten an, ausnahmsweise ist sie nicht verschwitzt. Ausnahmsweise konnte sie das Büro zeitig verlassen, auf dem Weg hat sie sogar noch Brötchen gekauft.
Obwohl die Sonne scheint, sind die Kinder heute nicht im Hof. Anne steigt die Stufen nach oben. Schon von draußen hört sie, wie laut es im Innern ist. Sie müssen mehr rausgehen mit den Kindern, denkt sie, warum gehen sie mit ihnen nicht raus? Als sie die Tür öffnet, sieht sie einen Schatten ins Spätdienstzimmer huschen. Sie folgt dem Schatten, folgt dem Lärm. Auf der Schwelle des Spätdienstzimmers bleibt sie stehen: Der Raum ist voller Tiere. Kleine Affen, kleine Bären, kleine Löwen springen an ihr hoch, einer zieht einen Faden aus ihrer Strumpfhose, ein anderer fingert ein Käsebrötchen aus ihrem Rucksack. Anne weiß nicht, woran sie Liam und Junis erkennt. Es besteht aber kein Zweifel, dass es sich bei einem Tiger um Junis handelt, und Liam ist eine kleine Katze. Sie lockt die beiden mit Brötchen auf ihren Arm, die Krallen schneiden ihr schmerzhaft in die Haut.
Draußen setzt sie die zwei Tiere in den Anhänger, der sich in einen Käfig verwandelt hat. Der Käfig ist erschreckend schwer, und während sie durch den Park nach Hause radelt, gerät sie doch noch ins Schwitzen. Was Daniel wohl sagen wird, wenn er am Abend nach Hause kommt? Dass Junis‘ Fell sehr wertvoll ist? Dass sie Liams Krallen kürzen müssen? Dass sie, Anne, endlich strenger sein muss?
Sie schiebt das Fahrrad in den Hof und jagt die zwei Tiere durchs Treppenhaus in die Wohnung. Auch das Kinderzimmer ist ein Käfig, und als Junis und Liam drin sind, schlägt Anne schnell das Gitter zu. Im Kühlschrank findet sie einen Klumpen rohen Fleisches, von dem sie zwei dicke Scheiben abschneidet. Das Fleisch ist eiskalt, und Anne ist, als würden ihre Finger daran festkleben. Ihr ist, als könnte sie die Finger nie wieder davon lösen.

Die böse Hexe des Westens / Die böse Hexe des Ostens

Die böse Hexe des Westens

Diesen Sommer sollte wie immer ein gigantomanischer Hurrikan kommen – selbstverständlich aus dem Land der Gigantomanie. Gleichzeitig schaute sich meine Tochter „The Wizard of Oz“ an, in der die Hauptdarstellerin in einer Windhose durch den Himmel gefegt wird. Dieser Film fesselte sie schon lange, nicht nur weil die böse Hexe des Westens ihr eine Heidenangst einjagte, sondern auch, weil sie in ihren Kinderbüchern alle Seiten mit einer Hexe ähnlichen Aussehens übersprang – bis ich eines Tages die glorreiche Idee hatte, die Hexen mit Aufklebern zu überkleben. So besaß sie nun zahlreiche Kinderbücher, in denen sämtliche Hexengesichter von Aufklebern verdeckt waren.
Ausgerechnet an dem Tag, an dem ihre Oma kam, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, wollte sie wieder „The Wizard of Oz“ sehen. Die Oma hat lange schwarze Haare und trägt grüne Kontaktlinsen. Wir ließen meine Tochter schauen, aber als es ins Bett gehen sollte, weinte sie und wollte nicht in ihrem Zimmer bei der Oma schlafen: „Sie ist so hässlich, ich habe Angst vor ihr, sie sieht aus wie eine Hexe, wie diese Hexe vom Wizard of Oz.“ Ich wusste nicht, ob ich lachen sollte oder ihre Ehrlichkeit bewundern. Schlussendlich schlief sie die ganzen zwei Wochen bei uns im Bett, bis die Oma auf ihrem Besen zurückflog ins Land der Tornados und Hurrikans.

 

Die böse Hexe des Ostens

Damit sie ihre Horrorvorstellung vielleicht überwindet, nahm ich sie heute mit ins Freibad. Ich fragte sie wieder, ob sie immer noch vor ihrer Oma Angst hat, und sie bejahte es, sie wisse nicht warum. Gerne hätte ich ihr gesagt, dass ich so froh war, mit ihr im Bad zu sein und keine Zeit mit der bösen Hexe des Westens verbringen zu müssen. Das ist ja auch interessant, die böse Hexe des Ostens wird von Dorothy zerquetscht, einer weißen Göre aus dem Biblebelt: Kansas. Ich bin keine Orientalistin und symbolisch gesehen zerstört vielleicht ein naives weißes Mädchen das Böse aus dem Osten – heutzutage würde man sagen die „muslimischen Länder“. Leider bleibt dann noch das Böse aus dem Westen, das wiederum nur mit der Hilfe des Scharlatans, des Zauberers von Oz, besiegt werden kann. Es reicht, einen Eimer Wasser über die hässliche Westhexe zu schütten und den „Blechmann“ zum Herrscher zu machen – und schon bekommt die Biblebelt-Tristesse ihre verlorengeglaubte Dorothy zurück.

Kein Manifest

Denke seit Längerem darüber nach, dass ich einen Text schreiben möchte, ein Manifest, eine Streitschrift über Mütter. Und Väter. Aber ich habe Angst, dass dann jemand sauer auf mich ist, dass ihr entsetzt seid, dass ich über uns alle nachdenke, dass ich es nicht fassen kann, in welche Rollen wir verfallen. Dass ihr traurig seid, dass ich euch verrate. Ich muss aber doch tolerant sein, denke ich dann, dass jede Mutter (und ich bleibe hier bei den heteronormativen CIS-Müttern, zu denen ich auch gehöre) es machen darf, wie sie möchte. Aber dann sorge ich mich, dass ihr erschöpft seid und eure Wut verdrängt. Manche Frauen* SIND DAS NICHT. Sind nicht diese Mutter. Sind noch keine Mutter. Hätten gern ein Kind, wären sie dann auch diese MUTTER? ICH WEIß ES AUCH NICHT IMMER BESSER. Ja, alle können ihr Kind so umsorgen, wie sie möchten. IHR SEID FREI. (Seid ihr frei? Bin ich frei?) Aber ich kenne dieses Gefühl sehr gut, dass man es vielleicht grade doch lieber selbst macht, weil es schneller geht, weil man denkt, der VATER, und ja, einer dieser heteronormativen CIS-VÄTER, was denkst du dann: der kann das nicht? Wieso sollte er es nicht können? ER kann das und er muss das, denn immerhin hat er seinen erigierten Penis mit großer Lust von deiner feuchtroten Vagina einlullen lassen, KERNSCHMELZE, und dann ist es, wie es ist: anders. Und dann hat man nämlich neun Monate Zeit – Zeit zu lesen und zu reden und sich aufzuteilen. Wer kann was, was gibt es für Möglichkeiten? Wie kann man als Vater, ja, du, VATER, aktiv denken, handeln und sich kümmern. Wie kann man die Elternzeit so organisieren, dass du, VATER, ein halbes Jahr Elternzeit nimmst? Egal Geld, egal Stillen (und ich weiß genau, Geld und Stillen sind sowas von nicht egal), EGAL Mama, wenn du sagst, du möchtest aber gern die Elternzeit zu Hause, DENN wieso solltest du, MAMA, mehr Recht darauf haben, diese wunderschöne Zeit mit dem Kind zu Hause zu haben? WARUM SOLLTEST DU, PAPA, nicht wissen, wie es ist, wenn das Kind sich hochzieht am Möbel und dich anstrahlt, dabei vor Erschöpfung nicht mehr zu spüren, wer du bist und wann du deine Haare gewaschen hast? Und dann sendest du deiner Partnerin eine MMS und sie ist ein bisschen sehnsüchtig und schickt ein Herzemoji zurück. Und abends weiß Person nur ein bisschen, wie es ist, den Anforderungen der Lohn-/Care-Arbeit zu entsprechen, und man MUSS SICH EINFÜHLEN und reden und streiten und weinen, und jetzt habe ich Angst, dass jemand verletzt ist, weil klar, kann man auch fünf Jahre stillen und das Baby nicht in die Kita bringen. Klar, kann man alles so machen, wie man will, ihr Wolleseidefreaks, aber ich frage mich, warum man sich so oft nicht sagt, was man braucht, und warum man diese Struktur nicht aufbrechen kann? Die Elternzeit, davon bin ich überzeugt, ist der Anfang, der alles bestimmt. Danach geht es erst richtig los, Freunde. Alles muss klar sein. Es ergibt sich nicht automatisch und romantisch. Es ergibt sich so, wie es sich seit langer Zeit eingeschliffen hat.
Ich hab doch keine Ahnung, was besser für wen ist, aber ich kämpfe dafür, dass man diese Struktur nicht nur durchbricht, indem man drüber spricht, sondern indem man TUT. PLANT. KOMMUNIZIERT, STREITET. Ohne Anstrengung keine Veränderung. Aber ohne Anstrengung auch eh nichts. Die ausgetretenen Pfade sind nicht die besseren.
Ihr könnt jetzt auch sagen, halt’s Maul, Jenny, Verräterin. Aber ich will niemanden verraten. Ich will doch nur ein bisschen an dem System kratzen, das sich bei uns eingeschlichen hat. Oder eigentlich: ich will es umstürzen. Ganz klein, ganz von unten und von der Seite. Wir machen das zusammen.
Übrigens: weiß, studiert, Arbeiterkind, Wessi, Eltern mit Behinderung, angelerntes kulturelles Kapital: vorhanden. Minderwertigkeitskomplex: vorhanden. Heteronormative Kleinfamilie: am Start.
Eine Freundin meinte neulich, als ich sie fragte, wie ich diesen Text schreiben soll, er solle nicht so aggressiv sein, eher beobachten, beschreiben. Leute, das kann ich nicht.

Sandmann, lieber Sandmann?

Fiktive Charaktere sollten möglichst vielschichtig angelegt sein, so ist zumindest der Tenor in Schreibwerkstätten und -ratgebern. In der Medienwelt unserer Kinder jedoch dominieren auf den ersten Blick simple Figuren. Der Sandmann beispielsweise scheint ausschließlich über positive Eigenschaften zu verfügen: Er ist vielseitig begabt, beruflich breit aufgestellt und finanziell exzellent ausgestattet – das schließe ich allein schon aus dem Besitz eines Unterseebootes, eines Heißluftballons, einer Mondlandefähre und so ziemlich jedes anderen Fortbewegungsmittels dieser Galaxie. Er ist immer pünktlich und achtet auf ein gepflegtes Äußeres. (Wie kriegt er nur immer den Bart so perfekt hin?) Vor allem aber ist er bei all dem Stress, Abend für Abend global die Kinder ins Bett zu schicken, unfassbar gutmütig und geduldig. Was es allein für einen Aufwand sein muss, für jeden dieser unzähligen Besuche das passende Mitbringsel – den Peitschenkreisel für die Prädigitalen, den Expander für die Adipösen, die Heckenschere für Dornröschen – zu besorgen! Der Sandmann würde einen großartigen Partner abgeben – da war ich mir immer sicher!
Erst mit dem für die Tiefe von Charakteren sensibilisierten Blick ist mir die subtile Abgründigkeit aufgegangen, die in der Figur angelegt ist. Als Vater würde dieser Sandmann nämlich kolossal versagen. Wenn die Kitas schließen, wäre er gerade dabei, letzte Besorgungen zu machen – man bedenke nur die etwas eitle Angewohnheit, zu jedem Anlass im passenden Outfit zu erscheinen! Während des Abendessens würde er mit einem aufgemotzten Rennauto durch die Gegend heizen oder seinen fliegenden Teppich ausklopfen. Und wenn die Nachtruhe seines eigenen Kindes ansteht, streut er gerade seinen Schlafsand in allen Himmelsrichtungen. Sandmann junior würde seinen alten Herrn nur von Fotos und aus dem Fernsehen kennen – der Papa ist noch auf Arbeit! Gerade die Überfigur des Knirpsekosmos’ ist als moderner Vater eigentlich undenkbar. Natürlich will ich nicht ausschließen, dass der Sandmann möglicherweise gar nicht gebunden ist. Derart kinderfreundlich wäre er unter den Kinderlosen jedoch eine singuläre Erscheinung. In der Art und Weise, wie er uns alltäglich präsentiert wird, käme er als Familienmitglied allerdings nur infrage, wenn irgendjemand im Hintergrund die Sorgearbeit verrichtet. Equal Care? Sandmann, lieber Sandmann, es ist noch nicht soweit!
Stellen sich möglicherweise auch eindimensionale Indianerjungen und Honigbienen als vielschichtig heraus, sobald wir einmal damit anfangen, sie nicht nur Abend für Abend anzuglotzen, sondern auch die unzureichend ausgeleuchteten Facetten ergründen? Was bürden wir unseren Kindern gerade mit den schablonenhaften Gestalten auf? Ich zumindest werde wachsam sein und mir nicht mehr so einfach Sand in die Augen streuen lassen!

Milch

Gerade bin ich soweit, wieder einzuschlafen, da richtet sich Malik auf und ruft: „Milch!“ Sein Ruf steht im Schlafzimmer wie etwas Physisches, eine Säule, er hallt lange nach, und ich weiß, was das bedeutet. Manchmal, selten, bleibt es bei diesem einen Ausruf, dann kippt er zurück zu einem von uns und schläft weiter, doch heute kommt der zweite Ruf, energischer, und dann, als Levke und ich uns nicht rühren, der dritte, der keine Nicht-Reaktion mehr duldet: „Mein Milch!“ Vor einigen Wochen haben wir ihm die nächtliche Milch abgewöhnt, denn er hatte sich so an diese Mahlzeiten gewöhnt, dass er jede Nacht mehrmals nach einer Milch verlangte. Die Hoffnung, ihn damit zu beruhigen, erwies sich als Trugschluss. Der Forderung nachzugeben hieß nicht, sie zu befriedigen, sondern sie weiter anzustacheln. Er rief dann: „Mehr Milch“, und wenn er damit fertig war, rief er wieder: „Mehr Milch“ oder: „Noch ein Milch“, wie die Fischersfrau, die ihren Mann immer wieder hinaus zum Butt schickt, weil sie den Hals nicht vollkriegen kann. Immer, wenn wir ihm die Milch verweigerten, bekam er einen Wutanfall. Die Wut kommt, mit oder ohne Milch, es ist eine Wut, die nicht durch Milch zu stillen ist, es ist der zunehmend verzweifelte Versuch, etwas, das sich in ihm aufgetan hat, ein Abgrund, eine Angst, mit Milch zu füllen, es ist eine Wut darüber, nicht mehr durch das Saugen an der Brust oder der Flasche in den entgrenzten Mutterraum fallen zu können, es ist eine Wut über einen bevorstehenden Schritt, den er nicht gehen will. Wir sehen es, wir leiden mit ihm und können ihn doch nicht erlösen. Wir müssen dem Maßlosen Einhalt gebieten.
Levke redet leise auf ihn ein, Morgen gibt es wieder eine Milch, morgen früh. Er hört dann manchmal auf zu weinen und hört ihr zu, doch sobald er die Bedeutung dessen, was sie sagt, versteht, denn er weiß mittlerweile, was morgen heißt, nämlich nicht jetzt, setzt das Wüten nur umso heftiger ein, es hebt an wie ein Sturm und bricht aus ihm heraus und es bildet einen surrealen Kontrast zu der vollkommenen ländlichen Stille um uns herum. In städtischen Nächten gehörte es dazu, dass im Hinterhof immer irgendein Kind weinte, und ich wachte auf und dachte, Mensch, jetzt beruhigt es halt und nehmt es in den Arm, immer mit einer latenten Haltung des Vorwurfs, als würden sie das Kind absichtlich schreien lassen. Wie naiv ich war. Welch eine Stimmgewalt ein solch kleiner Körper erzeugen kann. Es ist tatsächlich eine Form von stimmlicher Gewalt, gegen die man machtlos ist. Er brüllt seine Frustration hinaus in den leeren Raum. Zehn, zwanzig Minuten, in denen er sich nicht beruhigen oder berühren lässt, die man nur übersteht, indem man sich die Decke über die Ohren zieht und abwartet. Er wird dann ganz eins mit seiner Wut, wie er überhaupt ganz in Emotionen lebt. Wenn er sich freut, freut er sich ganz, wenn er lacht, lacht er mit dem ganzen Gesicht, wenn er weint, bebt sein ganzer Körper, und wenn er schreit, schreit er aus Leibeskräften. Nichts wird relativiert. Alles was er fühlt, fühlt er ganz.

Auszug aus einem in Arbeit befindlichen Roman

Lach, Medusa!

Ein paar Klicks und ich bin drin. Gewöhnlich sehen meine Wochenenden so aus: aufarbeiten, was in der Woche liegen blieb, Wäsche waschen, Wohnung putzen, Taxifahrten für die Kinder, bei den Hausaufgaben helfen. Für anderes bleibt keine Zeit und Geld. Um Veranstaltungen zu besuchen, müsste ein Ersatz gefunden werden, jemand, der all die Arbeit macht, meine Sorgearbeit ist nicht billig, nur werde ich nicht dafür bezahlt. Ich bin die billigste Arbeitskraft für unseren Haushalt.
Aber das ist heute anders. Auf dem Bildschirm sehe ich ihre kurzgeschorenen Haare, mir gefällt ihr roter Lippenstift. Ich liebe vor allem ihren Text „Das Lachen der Medusa“, darin entfaltet sie das weibliche Schreiben, das die Grenzen von Philosophie, Feminismus und Psychoanalyse vermischt. Hélène Cixous erwähnt Medusa auch heute, genau wie Rimbaud, mir stockt der Atem vor Bewunderung, als sie über Joseph Ignace Guillotin spricht, das unerreichbare Ziel, eines sekundenschnellen Todes und die Frage an Gott: Bist du verrückt geworden und wenn ja, wer muss dann handeln, der Mensch? Ihre Stimme übertönt den Staubsauger, das Geschrei der Kinder, die drei Stunden Online-Seminar vergehen wie im Flug. Einmal erwähnt sie den Begriff „Lenz“ für Frühling, um über seine Einzigartigkeit im sprachphilosophischen Kontext zu reflektieren. Ich schreibe ein Kommentar im Chat und freue mich, über den Austausch mit anderen Teilnehmern. Als sie sich verabschiedet, bin ich mit den Einkäufen fertig, ziehe schnell mein Handy aus der Tasche. Ich sehe noch ihr medusisches Lächeln zum Abschied, und denke, dass, so sehr ich diese Krise hasse, mir wünsche, diese digitalen Formate mögen bleiben. Sie erlauben mir, einen neuen Zugang zu Räumen zu finden, die mir vorher aufgrund von Sorgearbeit verschlossen blieben. Ich will noch viel mehr Lachen, Medusa!

Eddie the Earthworm

Aber wie habe ich das früher gemacht, 2000 Wörter am Tag zu schreiben, sechs Stunden am Stück auf einen Absatz konzentriert zu bleiben, manchmal auch nur auf einen Satz? Ich weiß gar nicht mehr, ob das der Wahrheit entspricht oder einem Klischee, um mich an ein Leben davor zu erinnern, das ich noch nicht bereit bin, wiederzufinden. Ein Riss im Kosmos und vor allem in meinem Schreiben. Ich weiß nicht mehr, wo ich spreche und ob ich das Recht habe zu sprechen. Mein Universum hat sich auf eine Formel reduziert: funktionieren, aushalten, Gefühle ins Klo ablassen und nicht vergessen, vor dem Händewaschen die Spülung zu drücken. Denn wenn wir uns das große Aufräumen erlauben, werden wir nicht überleben. Mein Wort für den Familienfrieden: Klappe halten, und das mit Freude! Sonst wäre der Erdrutsch nicht nur ein Wortspiel, sondern strukturell. Vor allem ohne Sicherheitsgurte. Die emotionalen Reserven sind aufgebraucht. Als Beweis, am Freitag starb unser Hamster und ich fühlte nichts. Bei den anderen Tieren war ich jedes Mal verzweifelt, ein seelisches Wrack angesichts des Todes. Diesmal nichts, gar nichts, Leere. Meine Töchter heulend, mir fiel zum Trost nichts anderes ein als: „Ja, er ist tot, das ist traurig. Habt ihr schon eure Hausaufgaben gemacht?“

Aus dem Französischen von Barbara Peveling.