wunschliste kinderkriegen. va te faire foutre*

das verstehen: regelmäßig schmerzen
messer im bauch, rote, dicke klumpen,
schmiere wie flüssiger beton,
baumeister des inneren, sehr dunkle spuren
(9 monate tampons sparen, bluten ist luxus!)

organe definieren, die sonst
hängen, im weg sind, peinlich,
(beim sport vor allem!)
auch das: milch produzieren,
den körper in eine maschine
verwandeln, wie von selbst,
etwas schaffen.

einen status erlangen
nicht nur frausein, sondern: mutter
etwas zu sagen haben, im eigenheim.

zuletzt, du, deine augen, dein mund,
in dir menschen sehen, die vergangenen,
gegenwärtigen, zukünftigen, auch
das vor allem, leben.

* Gustave Flaubert, Lettre à Louis Boulhet, 1850; dt: leck mich am Arsch

Ein Beitrag aus der Reihe in dir menschen sehen – Texte zum Kinderwunsch.

Traum II

Anne träumt: Sie öffnet den Kühlschrank, holt Käse, Salami, Tomaten heraus. Im Kinderzimmer surrt schon wieder das ferngesteuerte Auto, Anne hasst dieses Geräusch. Als sie die Butterdose auf den Tisch stellt, rutscht der Deckel herunter. Er fällt auf den Stuhl und von dort auf die Fliesen, und es ist seltsam leise, wie er in drei fast gleich große Teile zerbricht.
Anne will sich bücken, verschiebt es aber auf später. Stattdessen nimmt sie das Brot.
„Ich“, hört sie Liam im Kinderzimmer sagen.
„Kriegst du aber nicht“, sagt Junis.
„Ich“, beharrt Liam.
„Noch eine Minute“, ruft Anne. „Dann kriegt Liam die Fernbedienung. Alles klar, Junis?“
Im Kinderzimmer knallt etwas, Liam schreit, und Anne rutscht mit dem Brotmesser ab. Der Schnitt ist tief, tut aber nicht weh. Blut tropft auf das Brett, Anne wischt es mit dem Ärmel weg. Sie schneidet weiter, wirft die blutigen Scheiben in den Brotkorb. Sie will Milch eingießen, bekommt den Tetrapak mit der verletzten Hand aber nicht richtig zu fassen. Er fällt um, die Milch läuft auf den Boden. Annes Socken saugen sich voll.
„Eine Minute ist um“, ruft sie. „Liam ist jetzt dran, Junis, okay?“
Sie nimmt drei Teller aus dem Regal, zwei davon rutschen runter. Den dritten, vierten, fünften stellt sie auf den Tisch. Dass sie in eine Scherbe getreten ist, merkt sie nur daran, dass sich die Milch auf dem Fußboden rosa färbt. Sie fährt sich durch die Haare, etwas klebt darin, Butter oder noch mehr Blut oder vielleicht sogar etwas, was sie von draußen mit hereingebracht hat. Bei der Vorstellung muss sie lächeln, und als sie zwei Finger in den Frischkäse taucht und sich damit die Wangen schminkt, lacht sie laut.
„Abendessen ist fertig!“, ruft sie. „Liam? Junis? Kommt ihr bitte?“

Unterbrechungen

Die Wohnung schweigt, wenn ich morgens vor den anderen aufstehe, um in den frühen Stunden ohne Unterbrechungen schreiben zu können. Ich mache meinen Tee, füttere den Kater, öffne für ihn das Fenster vor meinem Schreibtisch, damit er in seine Welt schauen kann, Vögel und Eichhörnchen beobachten, die er töten möchte. Ich öffne meine Romandatei und blicke in meine Welt, in der ich mich in der Endphase der Geschichte ständig gedanklich bewege, zu der ich Kontakt halte, auch wenn ich unterbrochen werde. Ich funktioniere im normalen Leben, kann mich beim gemeinsamen Essen unterhalten, zumindest das nötigste, obwohl ich in der anderen, der Romanwelt, feststecke. Dieser Zustand ist für alle anstrengend. Der Versuch, mich wochenweise aus der Familie herauszuziehen, hat nie funktioniert, an mehrmonatige Aufenthaltsstipendien war nicht zu denken, sie fehlen als Glanzpunkte in meinem Lebenslauf. Ich musste mir eine Methode antrainieren, um in beiden Welten parallel bestehen zu können.
Ich schreibe mit Unterbrechungen, die manchmal eine Minute dauern, manchmal Wochen, sogar Monate. Mein Mann und ich teilen uns die Familienaufgaben – und die Sorgen mit einem stillen, in sich gekehrten Kind, das an dem Schulsystem in diesem Land verzweifelt, das im Klassenzimmer neben den lauten Kindern untergeht und leicht Mobbingopfer wird. Es liegt an den Eltern, so etwas zu Hause aufzufangen, Hilfe zu suchen, einen Schulwechsel zu organisieren, wenn gar nichts mehr geht. Die Tür zu meinem Zimmer bleibt immer angelehnt, meine Tochter soll das Gefühl haben, mit mir sprechen zu können, wenn sie es braucht, wenn die Welt draußen zu feindlich wirkt. Wir müssen einen Hafen für sie bauen.
Zweimal wurde die Veröffentlichung meines Romans verschoben, jedes Mal habe ich mich geärgert, aber auch gedacht, dass ich sowieso nicht zu einer Lesetour hätte aufbrechen können. Jetzt besucht meine Tochter eine Schule, die mir wie ein Auffangbecken für alle scheint, die nicht ins System passen. Ihr geht es gut, aber jetzt, wo mein Roman in die Welt tritt, ist Pandemie, die Lesetour fällt aus. Die Wege laufen nicht gerade, weder in meiner Schreibwelt noch in meiner Familienwelt.
Ich höre Bewegung in der Wohnung, der Wasserkocher sprudelt. Der Kater springt vom Fensterbrett und läuft aus dem Zimmer, die anderen begrüßen. Ein weiterer Schreibtag mit Unterbrechungen beginnt.

Rarely Asked Questions: Sebastian Wolter

Wie hat sich dein Arbeitsalltag verändert, seit du Kinder hast?
Sebastian Wolter: Die Arbeitstage sind kürzer und komprimierter geworden, denn ich möchte abends und am Wochenende Zeit mit meiner Familie verbringen. Das heißt auch, dass ich in meiner Arbeitszeit effizienter sein muss. Manuskripte lese ich vor allem nachts und im Zug.

Hat sich durch die Vaterschaft dein Blick auf Literatur verändert?
Sebastian Wolter: Auf Kinderbücher ganz sicher. Ich begrüße es sehr, wenn sie stilistisch und thematisch originell sind, die Bücher von Andreas Steinhöfel oder Kirsten Fuchs finde ich beispielsweise toll. Ansonsten hat sich mein Literaturgeschmack nicht groß geändert, aber natürlich liest der Vater in mir immer mit. Szenen, in denen Kindern ein Unglück widerfährt oder sie irgendwie scheitern, gehen mir nah. Dann frage ich mich: Könnte das auch meinem Kind passieren? Was haben die Eltern da falsch gemacht? Die Elternperspektive hatte ich so früher nicht.

Was ist für dich als Verleger die größte Bereicherung durch die Kinder, was ist für Dich die größte Schwierigkeit?
Sebastian Wolter: Als Verleger von Kinderbüchern ist es eine Bereicherung, die Kinderperspektive direkt im Haus zu haben. Die Schwierigkeit ist, genügend Zeit mit den Kindern zu verbringen, aber das trifft auf alle berufstätigen Eltern zu, das ist keine Spezialität des Literaturbetriebs. Natürlich sind meine Kinder aber vor allem an sich eine Bereicherung in meinem Leben, das würde ich nicht an meinem Beruf festmachen.

Hast du dich durch deine Elternschaft im Literaturbetrieb jemals diskriminiert gefühlt?
Sebastian Wolter: Nein, das kann ich nicht sagen. Aber als Verleger war ich auch nie in der Situation von Schriftsteller*innen, die Kinder haben und auf Lesereise gehen oder sich um Stipendien bewerben. Das ist noch mal was ganz anderes.

Deine Kinder sind acht und zehn – was war die schwierigste Zeit, was war die schönste Zeit?
Sebastian Wolter: Ich kann mich nicht an eine extrem schwierige Zeit erinnern, oder sie ist einfach schon zu lange her. Wobei, zuletzt war natürlich das Homeschooling zu stemmen, während meine Partnerin und ich weiter normal gearbeitet haben. Ging dann aber auch irgendwie, bei allem Ärger, den wir damit hatten. Ich glaube ja, die schönste Zeit war und ist immer die jetzige. Es gab immer große und kleine Herausforderungen und dazwischen viel Schönes, und ich vermute, so bleibt es auch. Was ich schön finde, ist, dass ich mich mit meinen Kindern mittlerweile auch über Bücher unterhalten kann.

Sebastian Wolter war von 2004 bis 2020 Verleger bei Voland & Quist, seit 2020 ist er Verleger bei Katapult. Seine Kinder kamen 2010 und 2012 auf die Welt.

Trennt euch doch!

Aber etwas Gutes hat das Getrenntsein, hatte ich dem befreundeten Kitavater geantwortet. Es war ein feuchter Herbstabend, längst dunkel, in jener Zeit, als Kinder noch gemeinsam durch die Straßen schwärmen und ihre bunten Laternen schwingen durften, rabimmel, rabammel, rabumm. Die mäandernde Masse aus Kindern und Eltern hatte unsere Söhne verschluckt, und der Vater und ich nutzten die plötzliche Stille für ein Gespräch unter Erwachsenen.
Er fragte, wo ich jetzt eigentlich wohnte.
Ich lächelte. Und erzählte, dass ich für die nächsten Monate eine Zwischenmiete in Mitte hätte, groß genug für Kind und mich … Und sonst? Der Kleine würde wieder in die Hose machen manchmal vermisse er seine Mama traurig und verletzt viel organisieren die Übergaben planen Unterhalt regeln streiten klar nach der Affäre es tue mir sehr leid das Kind sie auch ich.
Aber etwas Gutes hat das Getrenntsein, fügte ich dann noch an: Ich habe wieder Zeit für mich.
Als wir eine Familie zu planen begannen, war es für meine Ex-Partnerin und mich klar, dass wir unserem Kind gleich viel Zeit widmen wollen. Natürlich hatten wir, beide schreibende Freiberuflerinnen, die Möglichkeit, unsere Arbeit frei einzuteilen, bis in die Nacht und, wenn Deadlines es verlangten, auch darüber hinaus zu tippen und dafür ganze Tage auf dem Spielplatz oder im Zoo zu verbringen. An der halbhalben Aufteilung rüttelte die Trennung nicht.
Lange Jahre hatten wir unseren Sohn zwei Tage hier, zwei Tage da und Freitag bis Sonntag abgewechselt. Während des ersten Lockdowns, zur Schule hin, und auch weil der inzwischen Sechsjährige artikulieren konnte, dass er der häufigen Wechsel müde war, stellten wir auf das berühmte Wochenmodell um. Seitdem ist an sieben Tagen steten Energieflusses vor allem Care-Arbeit angesagt, sprechen, kuscheln, vorlesen, baden, Nägel schneiden, Fußball spielen, diskutieren, streiten und derzeit auch homeschoolen. Darauf folgt eine Woche, in der ich für mich bin, schreibe und weiteren Geldarbeiten nachgehe, oft bis abends spät, lustvoll und exzessiv, zweisame Abende mit meiner Partnerin verbringe, andere Erwachsene zum Spazieren treffe. Ich weiß meinen Sohn in guten Händen und glücklich, wenn ich am leeren Kinderzimmer vorbeilaufe, und auch auf die Minute genau, wann er es wieder mit Leben füllen wird.
Warum war das vorher nicht möglich? Warum schafften es zwei Erwachsene, die sich reif und reflektiert fühlten, nicht, einem Kind, einander als Paar und je sich selbst gerecht zu werden – und warum geht es jetzt, wenn wir nicht mehr zusammen sind und jeweils in neuen Partnerschaften?
Immer wieder höre oder lese ich von jungen Eltern, die ähnlich zu leiden scheinen wie wir damals. Auch der befreundete Kitavater wirkte während des Laternenumzugs müde und matt. Dennoch antwortete er, auffällig heftig, dass er gern Zeit mit seiner Familie verbringe. Inzwischen ist auch er getrennt. Ist Trennung wirklich der einzige Ausweg?
Oft genug empfinden wir, Getrennterziehende, den Makel, es nicht geschafft, als Kleinfamilie und Liebesbeziehung versagt zu haben. Aber können wir, sobald die Tränen getrocknet, die Scherben aufgewischt, genug Stunden auf der Therapeutencouch verbracht sind, gemeinsam und allein, nicht auch Vorbilder sein? Dafür, wie man ungesunde Verstrickungen zerreißt zum Beispiel. Zeiten durch verbindliche Absprachen einzäunt. Und, klar, Verantwortung übernimmt, für die eigenen Entscheidungen, Bedürfnisse, Sehnsüchte.

Eine Sekunde

Mein Sohn ist jetzt vier, viereinhalb, fast fünf, und es ist nicht lange her, dass er das erste Freundschaftsbuch mit nach Hause brachte. Wo befindet sich Deine Burg? Was ist Deine Lieblingsfarbe? Das wünsche ich Dir …! Natürlich habe ich mich mit ihm an den Wohnzimmertisch gesetzt und die Fragen beantwortet, die ich ja auch einmal mit … – nein, mich hat damals niemand unterstützt. Das lag nicht an mangelnder Wertschätzung meiner Eltern, nein, Freundschaftsbücher waren ja gerade eine der ersten Möglichkeiten, den zart sich entwickelnden eigenen Charakter in den eigenen Worten aufzuschreiben und auszudrücken. Doch erst als ich meinen Sohn nach seinem Lieblingsessen fragte, wurde mir das Offensichtliche gewahr: Mein Sohn ist jetzt vier, viereinhalb, fast fünf, und natürlich kann er weder lesen noch schreiben! Erst jetzt fielen mir die Handschriften als Handschriften der Eltern auf, als Schreibweisen, die absolut nichts über das Kind aussagten. Unter den kulinarischen Vorlieben waren Obst und Gemüse auffällig oft nachträglich hinzuaddiert worden. Immer zählten die Geschwister zu den besten Freunden. Und unter den angegebenen Mobilfunknummern würde sich nie und nimmer ein Kinderstimme melden.
Auf einer Seite hatte eine Mutter Wörter mit dem Bleistift vorgeschrieben, damit sie das Kind mit einem Filzstift nachziehen konnte – und irgendwie erschien mir diese Form der Fürsorge sehr schön und sehr schrecklich zugleich. Dass die Kinder die Eltern ihre persönlichen Vorlieben niederschreiben lassen, kann man als einen großen Vertrauensbeweis ansehen. Aber wäre es nicht ehrlicher, diese Freundschaftsverzeichnisse umzubenennen? Und zuzugeben, dass es sich dabei eher um Bücher handelt, mit denen sich Eltern gegenseitig ihre Wunschkinder zeigen?
Mein Sohn ist fast fünf, viereinhalb, er ist vier Jahre alt. Er hat schon drei dieser Bücher ausgefüllt, die ersten zwei Buchstaben seines Vornamens kann er schon alleine schreiben. Und zwischen bestem Freund und größtem Feind liegt bei ihm manchmal nur eine Sekunde.

Die Hütte brennt

„Gleich geht der Rauchmelder los, Alter!“, warnt meine Tochter. Ich stehe in der Küche, Handy am Ohr und eine Journalistin dran; den Gemüsehobel in der Linken, eine Pastinake in der Rechten. „Gleich“, antworte ich meiner Tochter so ruhig als möglich, obwohl sie noch gar keine Frage gestellt hat. Auch mir fällt jetzt auf, dass noch was im Ofen gewesen sein muss, das sich jetzt in Rauch aufgelöst hat. Also beende ich das Telefonat möglichst charmant und öffne das Fenster. „Papa, wir sollen uns für die Schule überlegen, welche Ziele wir für dieses Jahr haben.“
Jede zweite Woche bin ich alleinerziehender Papa; Homeschooling inklusive, und als Schriftsteller bin ich es gewohnt, für die Zukunft zu arbeiten, in der Literatur nennt man dies eine Prolepse. Derzeit schreibe ich an einem Roman, der im Frühjahr 2022 erscheinen wird, recherchiere dafür bereits seit fünf Jahren. Zwar gab es einen Vorschuss, aber die Tantiemen erhalte ich erst im Juni 2023, und auch die Lesungen werden erst nach der Veröffentlichung stattfinden. Außer: Lockdown. Wie gerade. Mein voriger Roman ist Ende letzten Jahres erschienen, Lesungen gibt es also nur online und bei weitem nicht so zahlreich wie sonst. Glücklicherweise kommt das Antragsformular für die Corona-Hilfen der Bundesregierung für den Zeitraum Dezember 2020 bis Juli 2021 bereits im März 2021. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, auch, wenn es sich bei meinem aktuellen Roman um einen Schelmenroman handelt. Wann das Geld ausgezahlt wird, steht noch nicht einmal in den Sternen.
Aber zurück zu meiner Tochter und der verqualmten Küche. Als Teilzeit-alleinerziehender Papa genieße ich die Zeit mit ihr und meinem Sohn unbändig. Ähnlich intensiv wie während meiner zweijährigen Elternzeit, als sie noch Hosenscheißer*innen waren. Die letzten zwölf Jahre dagegen war ich der Haupternährer, ständig auf Lesereise oder unter Strom, 60-Stunden Woche oder mehr, um den Kühlschrank zu stopfen und ein emanzipierter Papa zu sein. Da nehme ich die derzeitigen Kollateralschäden wie Dampfbad in der Küche und Dialoge meiner Tochter mit meinem „Alter“-Ego gerne in Kauf. Denn die intensive Zeit, die wir zusammen erleben, ist genau wie das Schreiben eine Handreichung in die Zukunft, nur zwischen meinen Kindern und mir. Und diesem feuerfesten Band kann dann auch eine brennende Hütte nichts anhaben. Meine Tochter hat übrigens das Ziel, dass alles so bleibt wie im vergangenen Jahr.

Jahrelang

Ein Jahr sind wir zu Hause, ein Jahr zu Hause mit unseren Liebsten. Wir haben es uns zwischen den Zahlen gemütlich gemacht, den morgendlichen Zahlen aus den Radiogeräten, die heutigen Infektionszahlen, Inzidenzwerte, der steigende, der fallende R-Wert. Wir backen Brot, wir basteln uns die Finger wund und sind dauergestresst und dauermüde von der ganzen Heimeligkeit, und mit jeder Radiomeldung versinken wir noch ein Stück tiefer zwischen den Decken und Kissen. Plötzlich gibt es da diese neuen Worte, systemrelevant, pandemiemüde, Cluster, Coronaleugner, mRNA, und es gibt wieder neue Serien und neue Podcasts und weitere Formate, um zu verdrängen, was ist.
Die Kinder schrumpfen hinter ihren Endgeräten. Es wird empfohlen, eine halbe Stunde Medienkonsum am Tag, ha ha ha, das ist ein guter Witz, sonst bekommen sie viereckige Augen, verlernen zu sprechen und verblöden. Aber das Kind hat null Bock auf den einhundertachtundfünfzigsten Waldspaziergang, obwohl die Sonne scheint, es hat Bock auf seine Playlist, auf Bibi & Tina und Nico Santos, und manchmal, da schmuggle ich ihr etwas französischen Rap dazwischen, aber auch dazu tanzt sie nach kurzer Zeit vor dem Spiegel, Move um Move, eine halbe Stunde, nicht länger, hörst du, ja ja, und wumms fliegt die Tür zu.
Wenn Kinder jetzt plötzlich auffallen, dann fallen sie auf, weil sie stören. Weil sie wegbetreut werden müssen. Das hatte irgendwie niemand auf der Rechnung. Seit einem Jahr drehen wir uns alle im Kreis, seit einem Jahr hören wir die wohlgemeinten Appelle, wir sollen uns gefälligst zusammenreißen und Opfer bringen, wir sollen auch im Homeoffice unsere Tabellen ausfüllen und dabei unseren Kindern liebevoll und zugewandt begegnen, selbst Schuld, du hättest ja keine Kinder, du hättest ja nicht müssen, heute muss keiner mehr. Und so wird jede Wohnung zu einem eigenen Planeten, zu einem eigenen, kleinen Ökosystem. Manchmal erinnern wir uns daran, wie wir uns früher besuchten und näherkamen.
Mit unseren Liebsten zu Hause, eine Gemütlichkeit, die uns zu Kopf steigt. Kopf raus, Kopf schütteln, es wird wieder wärmer.

Teilzeit

Verantwortung – das ist: Die Theorie wischt der Praxis nicht den Arsch ab. Wenn ich gefragt werde, antworte ich. – Ich schreibe einen halben Satz. Dann fragt mein bald fünfjähriger Sohn, ob ich ihm die Säge des Taschenmessers ausklappen könne. Ich antworte, ich unterstütze, so gut ich kann. Ich bin für die Säge. Ich bin teilzeit-alleinerziehend. Ich schreibe wieder einen halben Satz – stehend, Laptop auf Brusthöhe im Regal. – Teilzeit-alleinerziehend? Ich teile – wir leben getrennt – die Care-Arbeit mit der Mutter, genauso wie ich den VW-Bus – jenseits von Uber und Teilauto – immer noch mit ihr, und anderen Menschen, teile: Car(e)-Sharing. Ich lebe, in einem erweiterten Wohnkontext von rund 20 Menschen, mit einer anderen Frau – eine Art Co-Mutter für meinen Sohn: ihren Sohn? Ich bin Teilzeit, teile meine Zeit mit anderen Menschen. Timesharing. Einen Teil der Zeit kümmere ich mich allein um meinen Sohn. Da habe ich die Verantwortung. – Ich habe ihm grüne Post-Its gegeben. „Hast du auch rosa Post-Its?“ Ich gebe ihm auch die, schreibe einen Satz. Er gibt mir die grünen zurück. – Die Situation, wenn sie gelingt, – schreiben und kümmern zugleich – begeistert mich, treibt mich an. Akzeleration. Allzu häufig gelingt sie nicht. Das Beschleunigungsgefühl, merke ich, entstand in den 90ern aufgrund der ungehinderten Ausbreitung des Kapitalismus nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und aufgrund der einsetzenden Verbreitung digitaler Kommunikation. Ich werde einen Exkurs über das Internet schreiben. – „Geiler Scheiß“, sage ich, während ich meinen Sohn in den Armen habe. – „Geiler Scheiß“, sagt auch er. „Geiler Scheiß sagt man nicht“, sagt er – zu mir. Und ich schreibe – 11.35 Uhr – alles in Echtzeit auf. 11.43 Uhr: Ich sitze auf dem Klo, wische mir den Arsch ab, während ich denke: Theory-fiction ist auch ein Schritt hinter die universitäre Disziplinierung im 19. Jahrhundert zurück – denken nicht in Disziplinen, sondern denken in Kodifikationsvarianten. Diversität, wie sie in der Idee des Internets immer mitschwang, aber nie so ganz – und nur für die technische Elite – umgesetzt wurde. It’s Corona-Time. Kein Kindergarten, ich hänge die ganze – also die halbe – Zeit – ständig – um ein Kind herum. 12.54 Uhr: Ende Zetkin-Park vor Schleußig zu dritt, mein Sohn, die Co-Mutter und ich, mit dem Fahrrad auf dem Weg zur biologischen Mutter – écriture automatique geht mir durch den Kopf. Aber das hier ist keine écriture automatique. Der Gegenstand: ein Zeitausschnitt am 05.05.2020 und mein Umgang damit. Keimzelle eines Texts. Selbstreflexion, Feedbackschleifen, keine avantgardistische Selbstmystifikation. Das Gegenteil von écriture automatique.

Auszug aus einem längeren Prosatext

naming shaming blaming bitching moaning

naming shaming blaming bitching moaning wir bitten um verständnis das
blaming wurde zu lange zurückgehalten zu diesem naming können sie nicht mehr
bearbeitet werden shaming ist verjährt fakten hin tatbestand her keine
hetzjagd gar hexenjagd eröffnen bitching sind hier eindeutig in die subjektivitäts-oder beschwerdefalle getappt moaning man hätte zu einem anderen früheren
besseren blaming stattdessen aufbegehren können was für naming angenehmer
darüber hinaus auch eindeutig heroischer gewesen wäre wir nehmen an dass
niemand shaming als passiv oder gar machtlos angesehen werden will außerdem
können wir zum gegebenen blaming nicht davon ausgehen dass sich die linien
verschieben oder gar strukturen dauerhaft verändern die uns heute hier vorliegenden
bitching and moaning zu den akten gelegt diesmal nicht ohne weiteres noch bis auf
weiteres zur geneigten kenntnis
dass keine ordnung bleibt

(Auszug aus „Protokolle der Gegenwart“, Verlagshaus Berlin, 2019)