Ich komme ungern zu spät. Meistens radle ich so zeitig los, dass ich mir Zeit nehmen kann, obwohl ich sie eigentlich nicht habe. Auch als das Auto mich trifft, bin ich nicht besonders schnell. Ich fahre auf dem Radweg, das Auto kommt von rechts und schiebt mich zwei Meter weit auf die Fahrbahn. Es geht unglaublich langsam, und ich bin viel zu erstaunt, als dass mein Leben an mir vorüberziehen könnte, oder was in einem solchen Moment sonst passieren müsste. Als das Auto endlich bremst, kippe ich nach vorn. Wie ich aufstehe und mein Rad auf den Gehweg schiebe, daran habe ich keine Erinnerung. Ich weiß aber noch, wie ich mir die Mütze vom Kopf reiße und den Autofahrer anschreie: „Ich fasse es nicht! Sind Sie verrückt? Ich habe zwei kleine Kinder!“ Dann setze ich mich auf den Gehweg und weine.
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Meine engste Freundin kommt aus dem Westen. Sie hat zwei Geschwister, und ihre Mutter war immer zu Hause. Damals, während des Studiums, als wir uns anfreundeten, kam mir das ungeheuerlich vor. War das nicht – ich fand dafür nicht einmal die richtigen Worte: faul? Langweilig? Komplett verschenkte Zeit? Meine Mutter hat bis zur Rente lohngearbeitet. Wahrscheinlich lag es nicht nur daran, dass sie auch an den Abenden und den Wochenenden nicht zur Ruhe gekommen ist. Auch jetzt, als Rentnerin, ist sie immer auf den Beinen. Malt mit meinen Kindern. Schlägt die Zeitung auf. Geht in die Küche, um schon mal die Kartoffeln zu schälen. Holt einen Artikel, den sie für mich ausgeschnitten hat. Ich kenne sie nicht als eine Frau, die sich in die Dinge versenkt.
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Der Autofahrer, der mich umgefahren hat, wartet eine Woche nach dem Unfall vor dem Institut, an dem ich Kreatives Schreiben unterrichte. Obwohl ich nicht verletzt war, haben wir Adressen ausgetauscht, und anhand meines Namens hat er meine Kurszeiten herausgefunden. Er entschuldigt sich noch einmal und hält mir einen Umschlag hin. Ich lehne ab, er insistiert: „Nehmen Sie es für Ihre Kinder.“ Ich wäge ab. Ich schätze, dass in dem Umschlag 100 Euro sind. Von 100 Euro kann ich für zwei Monate mein Schreibatelier bezahlen. Der Autofahrer ist mir sympathisch, trotzdem will ich ihn für seine Unaufmerksamkeit bestrafen. Oder nein: Ich will ihm nicht das Gefühl geben, dass Geld alle Dinge regelt. „Ich verstehe Sie“, sagt er. „An Ihrer Stelle würde ich auch ablehnen.“ Er steckt den Umschlag ein und geht davon.
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Letzte Woche war ich so erschöpft, dass ich beschlossen habe, ein paar Tage nicht ins Atelier zu gehen. Ich mache die Wäsche, bestelle Passfotos für den Großen, der traurig ist, weil Mats sein Bild von der KiTa-Garderobe gerissen hat, suche nach einem Fahrradhelm für den Kleinen. Wie meine Mutter springe ich von einer Tätigkeit zur nächsten, und abends bin ich genauso erschöpft wie nach einem Schreibtag. Trotzdem treffe ich mich noch mit meiner Freundin, wie immer reden wir über die Kinder. Damals, als wir uns anfreundeten und noch keine Ahnung hatten, was Elternsein bedeutet, haben wir oft über unsere Eltern geredet. Ich erinnere mich an vieles, was sie mir erzählte. Wie sie Ostern mit ihren Eltern bei einem dreistündigen Gottesdienst sitzen musste. Wie sie schon als Jugendliche begann, das Leben ihrer Mutter abzulehnen. Wie sie zum ersten Mal schwanger wurde und mit ihrem Vater telefonierte. „Du gehst dann aber schon wieder arbeiten, oder?“, sagte er am Telefon zu ihr. „Bitte mach es nicht wie die Mama.“