Teil I des Briefwechsels
Liebe Lena,
gleich kommen die Kinder zurück, sie waren für vier Tage bei den Großeltern. Zum ersten Mal seit J.s Geburt hatten D. und ich vier Tage für uns, und die Frage nach der Lebensform hat sich noch einmal anders gestellt. Diese vier Tage hätte ich ungern in einer Wohngemeinschaft verbracht. Es war wunderbar (und auch nötig), sich wieder in diese Welt zu begeben, die wir vor sechs Jahren freiwillig verlassen haben, wenn auch ohne zu wissen, was genau auf uns zukommen würde. Damals bestand unser Alltag aus Lesen und Gesprächen über diese Lektüren und über unsere eigenen Texte, aus Abenden mit DVDs, Kino, Theater (unvorstellbar im Moment), aus Spazierengehen oder Wandern, aus Kochen und Essen, manchmal gab es sogar Leerlauf … auch diese Aufzählung könnte lang sein. Und es ist ganz offensichtlich eine Aufzählung von zwei Einzelkämpfer*innen, Drinnies heißt das seit kurzem, glaube ich. Für die ist leider nur wenig Platz. L., der auch ein Drinnie ist, stößt im Kindergarten regelmäßig an alle möglichen Grenzen.
Wenn du von den verschiedenen Sphären schreibst, dann denke ich auch an Privilegien – einerseits an das Privileg, dass wir uns in dieser Form darüber austauschen können, andererseits an das Privileg, dass man sich die Form des Zusammenlebens überhaupt aussuchen kann. Dass man über die Summe verfügt, die in vielen Hausprojekten für den Einstieg nötig ist; dass man (vielleicht von den eigenen Eltern mitgegeben?) die nötige Gelassenheit und Sicherheit besitzt, um tolerant und großzügig mit den Bedürfnissen anderer umzugehen und dabei die eigenen Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren. Das Privileg, überhaupt zu wissen, dass verschiedene Formen des Zusammenlebens existieren. Und ich denke auch an das Privileg, Zeit aufzuwenden, um mit den Widersprüchen umzugehen, die entstehen müssen (oder nicht?), wenn man in einer Gesellschaft, in der alles auf Konkurrenz ausgerichtet ist, in einer solidarischen Form zusammenleben möchte. Tausend Stunden Plena schreibst du, da wird mir ganz schwindelig. Von Mediationen, Supervisionen, Trainings in gewaltfreier Kommunikation habe ich auch in „Links leben mit Kindern“ und in „Solidarisch gegen Klassismus“ gelesen – Dinge, die zeigen, dass eben auch die Mitglieder in solidarischen Zusammenhängen von dieser Gesellschaft geformt wurden und dass die Gesellschaft sich ändern müsste, um wirklich solidarisch zusammenleben zu können. Eine einzelne kann da nicht viel ausrichten, oder ist das jetzt eine Ausrede von mir, um meine Ausbruchsfantasie als bloße Fantasie erscheinen zu lassen?
Jetzt habe ich das Bedürfnis, zu einer Conclusio zu kommen – als Mutter, Partnerin, Frau, auch als Autorin, damit dieser Text rund wird. Ich könnte auf den Mangel zurückkommen, auf die Fülle. Auf das Über-sich-hinauswachsen und die Ideologie, die darin verborgen ist. Eine Conclusio gibt es natürlich nicht. Es gibt nur verschiedene Wege, und die meisten sind einfacher, wenn man sie nicht alleine geht. (Und doch: Ich bin froh, dass nur D. dabei ist, wenn ich vor Wut die Besteckschublade zuknalle oder abends vor Erschöpfung weine. (Schon wieder die Wut.)) In den sechs Jahren meiner Mutterschaft bin ich verschiedene Wege gegangen, von denen ich einige heute nicht mehr betreten könnte: Ich könnte nicht mehr ohne widersprüchliche Gefühle stillen, und ich würde mich wahrscheinlich auch nicht mehr freuen, wenn die Kassiererin im Supermarkt mich an der langen Schlange vorbei nach vorne ruft, weil ich hochschwanger bin und draußen 40 Grad herrschen. Und wenn ich jetzt noch einmal in diesem sonnigen Hinterhof im Leipziger Osten sitzen würde, würde ich vielleicht danach zu D. sagen: „Lass uns auf jeden Fall zum nächsten Treffen hingehen. Lass uns dranbleiben, das klingt gut.“ Aber wer weiß, was dort mit uns zwei Einzelkämpfer*innen passiert wäre?
Es müsste mehr familienfreundliche Räume geben, schreibt Nikola Richter in ihren Beitrag in „Reproduktion Reloaded“, und ich stelle mir vor, dass die Gärten der Leipziger Kitas am Wochenende ihre Tore für alle Kinder öffnen. Ich stelle mir Höfe vor, die nicht durch Mauern voneinander getrennt sind, und damit sind wir wieder bei der Frage nach dem Besitz. Meinst du, dass es ideologiefreie Räume gibt, wie nahe seid ihr in eurer Wohnung diesem Ideal? Und möchtest du woanders leben, wenn dein Kind aus dem Haus ist? Sehnst du dich dann nach mehr Stille und Alleinsein, oder freust du dich gerade darauf, dich mit weniger Verantwortung anderen Kindern zuzuwenden, andere Kinder aufwachsen zu sehen?
Es klingelt an der Tür, die Kinder sind zurück.
Mach’s gut
Katharina
Liebe Katharina,
gestern war ich im Schwimmbad. Ich mag öffentliche Bäder. Vor allem das Stadtbad bei mir um die Ecke. Die prachtvollen Mosaike wecken seltsamerweise immer fröhliche, optimistische Gefühle in mir. Bei seiner Eröffnung 1914 galt dieses Bad in einem Arbeiter*innen-Stadtteil als eines der schönsten und größten Europas und empfing angeblich bis zu zehntausend Menschen täglich. Ich finde, darin blitzt etwas gelingendes Gesellschaftliches auf. Es blitzt auf, dass die Schönheit öffentlicher Orte zählt, vor allem auch in von engen Wohnverhältnissen geprägten Stadtteilen. Dass alle die Möglichkeit haben sollten, sich unter dem warmen Strahl des Wassers zu verschwenden.
Ich habe mich länger nicht gemeldet. Letzte Woche war die Kitagruppe in Quarantäne. Und statt ins Gemeinschaftsbüro zu gehen, das ich mit einigen Freundinnen teile, habe ich versucht, zu Hause zu übersetzen. Und es erinnerte mich schlagartig an letzten Winter im Lockdown, unerwartet beklemmende Gefühle kamen an die Oberfläche. Wie es ist, wenn die Gedanken eng werden, weil der Tag immer zu wenig Stunden hat für alles, was reinpassen muss, und die Abgabefristen im Nacken sitzen. Wenn alles andere wegrutscht und nur das Abarbeiten von Aufgaben bleibt.
Zur Zeit verlangt das Kind nach mir, ständig. Es kommt immer wieder zu mir, wenn ich mich zum Übersetzen an den Schreibtisch setze. Ich frage mich: Geht es ihm nicht gut? Mein ständiger Wunsch, dass das Kind doch zufrieden sein soll – und nicht traurig, nicht fordernd, nicht zornig, nicht über die Maße hilfsbedürftig. Da wäre ich gerne geduldiger und gelassener.
Ich sitze also in einer warmen Wohnung mit einem gut versorgten Kind und warte auf den Moment, in dem ich abgelöst werde und wieder an den Schreibtisch kann. Und muss daran denken, wie es wäre, mit dem Kind bei eisigen Temperaturen in einem Wald an der Grenze zu warten. Oft stelle ich mir vor, was es bedeutet, in einer solchen Situation für ein Kind und sich selbst zu sorgen. In einem Notlager, in einem Wald. Oder auch in einer der abgelegenen Aufnahmeeinrichtungen in Deutschland, wo kein Platz für Rückzug und Privatsphäre ist. Das sind einige der Gleichzeitigkeiten, die mich beschäftigen, wenn ich über Bedingungen der Sorge nachdenke, über Care und Rage. Das bleibt wie eine bohrende, unbeantwortete Frage im Raum stehen.
Wie kommen wir zum Ende? Du sagst, wir haben schon zu viel geschrieben. Also keine weiteren Fragen mehr, nur noch Antworten oder Aussichten. Du fragst nach meinen Plänen, wie es weitergehen wird. Ich weiß noch nicht, wie lange ich so wohnen werde wie jetzt. Weiterhin folge ich keinem speziellen Plan. Ich freue mich auf das Kind, das eine langjährige Freundin mit ihrer Freundin bekommen wird. Darauf, die Kinder beim Aufwachsen zu begleiten. Mal sehen, welche Räume es dafür noch braucht.
Es ist schön, einander nicht zu kennen und Briefe zu schreiben. Es geht um viel und wenig, Fragen werden aufgeworfen, Themen gestreift und wieder aus dem Blick verloren. Die Unübersichtlichkeit bleibt, aber dieses gemeinsame Nachdenken ist gut. Vielleicht sollte insgesamt mehr gefragt werden: Wie hältst du es mit der Sorge? Wie gestaltet sich dein Netz an Beziehungen? Was fällt hinten runter? Woran verschwendest du dich und wo?
Sei herzlich gegrüßt
Lena