Das Alphabet des Brav-Seins

Dokumentation der Maternal Night zum Thema Brav-Sein

Am 15. Juni 2023 fand die erste „Maternal Night“ statt, das neue digitale Austauschtreffen der Other Writers zu einem festgelegten Thema, diesmal: „Brav-Sein“.

Bettina Wilpert und Sibylla Vričić Hausmann gaben ein Kurzreferat dazu, wie sie als Menschen und Schreibende dazu stehen, was sie von ihren Kindern erwarten – und ob sie vielleicht selbst manchmal zu brav sind, in ihrem Handeln, in ihren Texten. Danach fand eine gemeinsame Diskussion mit den zehn Teilnehmenden statt – nicht nur Netzwerkmitglieder, auch alle Gäst*innen sind zu diesen Treffen willkommen.

A

Autoritär: Weil so viele Denkweisen aus der autoritären Erziehung noch immer unreflektiert im Umlauf sind – „Kinder sollen die Erwachsenen im öffentlichen Raum nicht stören“, „Kleinkindern soll man nicht nachgeben, weil sie sonst immer mehr fordern“, „Kinder müssen zu gesellschaftsfähigen Menschen geformt werden“ und und und – ist es oft schwer, in der Beziehung zu Kindern die eigene Intuition zuzulassen und für falsch Befundenes zurückzuweisen. Dasselbe gilt dafür, wie sich Eltern, v.a. Mütter zu verhalten haben. Auch hier sind überkommene Vorstellungen noch sehr präsent und wirkmächtig. Die Frage ist doch: „Wie kann ich mein Kind nicht-autoritär erziehen und trotzdem das Gefühl haben, es gibt auch gewisse Grenzen, die das Kind nicht überschreiten darf?“

Autofiktionalität: Autofiktionale Texte sind ungehörig. (Bruch mit Milieu) – Autofiktionale Texte sind so en vogue, dass sie schon wieder brav sind.

B

Bedürfnisse: Um als Elternteil auch auf meine eigenen Bedürfnisse achten zu können, muss ich sie erst einmal kennen. Auch mein Kind soll seine Bedürfnisse kennen lernen.

Beruf: Die Entscheidung, Schriftsteller*in zu werden, ist an sich nicht brav, weil sie gegen die Konvention eines klassischen nine-to-five-Jobs verstößt.

Bindung: Ist die persönliche Bindung da (z.B. auch mit Schüler*innen in der Lehrer*innenposition), dann klappt es meist mit der Kooperation, auch bei vermeintlich schwierigen Fällen.

Brav-Sein als Kind: Ich war als Kind eher wild, aber irgendwann war ich dann doch eingenordet. – Ich war als Kind viel zu brav und bin dann mit 19 weggezogen.

Brave Mutter: Darf ich alleine wegfahren, feiern gehen, mein Kind anschreien, mein Kind verkatert betreuen?

Braver Vater: Bin ich ein braver Vater? Darf ich mir abends einen Drink machen, rauchen?

Brotjob: Jeden Morgen, als ich die Kinder zur Kita gebracht habe, war ich total neidisch, auf die, die nicht nach Hause zurück mussten, auf die, die irgendwo hingehen konnten, wo sie andere Leute getroffen haben.

D

Drinnen und Draußen: Zu Hause können die Kinder machen, was sie wollen, draußen gelten die Wünsche der anderen.

E

Eigene Erziehungserfahrung als Kind: Sie läuft bei Eltern innerlich immer mit.

Essen: Ich mag einfach nicht, wenn mein Kind beim Essen herumläuft, auch wenn ich mir immer wieder sage, dass es noch klein ist/ADHS hat.

Ehrgeiz (z.B. als Wissenschaftler*in, Künstler*in) ist eine Form der Bravheit (vgl. Arno Gruen, Der Fremde in uns: „Ehrgeiz ist wohl der am besten verhüllte Auswuchs des Gehorsams. Verhüllt deshalb, weil der Unterworfene sich als autonom erlebt, da er glaubt, eigene Ziele zu verwirklichen.“ Doch sind diese Ziele nach Gruen nicht autonom, sondern gehorchen unserer „auf Erfolg und Leistung ausgelegten Kultur: Ehrgeiz und Leistung, das Schaffen von Größe als Selbstzweck. Erfolg und Leistung beeindrucken natürlich, deshalb wird auch nicht sichtbar, dass sie dem Destruktiven dienen.“)

Elternschaft: Elternschaft ist im Literaturbetrieb nicht erwartet. Allein, dass ich über Elternschaft schreibe, kommt mir manchmal verboten vor. Ich denke: „Wen interessiert denn das?“

Erlebnisse: Inwiefern dürfen persönliche Erlebnisse im Schreiben Platz haben? Inwiefern trifft man Leute aus dem Umfeld damit oder stellt sie dar? Inwiefern darf ich das? s. „Autofiktionalität“

Erwartungen: Brav-Sein – als Wort spielte es weder in meiner eigenen Erziehung noch jetzt gegenüber der Kinder eine Rolle. Jedoch sind andere Worte für eine ähnliche Sache sehr wohl da: Erwartung, Konvention und diese ggf. zu brechen.

F

Figuren: Die jugendlichen Figuren in meinen Romanen sind niemals brav. Was gäbe es dann schon zu erzählen?

Funktionieren: Man darf halt nicht ganz aus dem Raster fallen. Der Druck, dass die eigenen Kinder und man selbst in der Betreuungs-/Erziehungsperformance außen gestellten Erwartungen entspricht ist riesig. Gesellschaftliche Ächtung ist schließlich das Schlimmste, was Menschen passieren kann.

Frankreich: Kinder werden mehr in der Kollektivität erzogen, wie in der DDR, nur ohne Ideologie – es wird sehr viel Druck auf sie ausgeübt.

G

Geschwister: Wie „brav“ eine erwachsene Person, auch als Elternteil und beruflich ist, liegt u.a. an Faktoren, die man selbst gar nicht beeinflussen kann. Ganz oben wären da Geschwisterreihenfolge, aber auch Geschlecht, Einstellung der Eltern, usw. zu nennen.

Gesellschaft: Mein Stress war ein „Mehr-Brav-Sein-zu-wollen“, aus der Angst vor den negativen Konsequenzen in Form von Ausschluss aus Gruppen oder der Gesellschaft. s. „Funktionieren“

Grenzen: Anderen Grenzen zu setzen ist die größte Herausforderung in meinem Leben. s. „Bedürfnisse“ und „Autoritär“

K

Kompromisse: In meinem Schreiben bin ich kompromisslos. Ich versuche, mich, Schreibregeln, Genres zu entwinden. Absichtlich kein Show-don’t-tell zu machen, absichtlich keinen Roman zu schreiben.

Körperarbeit: Beim Mutterwerden geht es auch um viel Körperarbeit, neben der emotionalen Arbeit. Ich glaube, dass es oft noch als „Frauenliteratur“ abgetan wird, wenn jemand über etwas Körperliches schreibt.

L

Literaturbetrieb: Brave Texte will niemand. – Ich würde mir weniger Bravheit auf der Bühne wünschen, mehr unterminierte Wettbewerbe, Autor*innen, die ihre Preise teilen und sich nicht von einer Jury still und artig bewerten lassen wollen. – Ich will meine Enttäuschung nicht runter schlucken müssen, wenn ich einen Preis nicht bekommen habe. – Es gibt eine positive Entwicklung hin zu weniger Bravheit gegenüber den Mächtigen im Betrieb.

P

Pubertät: Das Bild, dass brave Jugendliche ein Problem haben, ist auch falsch. Manchmal ist es einfach schön, dass sie bei sich bleiben, vielleicht bereits abgegrenzt genug sind und ihre Rebellion nicht durch z.B. exzessives Feiern oder so ausdrücken müssen.

R

Regeln: Wenn Regeln sinnvoll und nachvollziehbar sind, dann verlangt es nicht unbedingt Bravheit, ihnen zu folgen.

S

Schuldgefühle: Sie sind das Schlimmste!

Sicherheit: Gegen Regeln verstoßen, nicht-Brav-Sein und widersprechen, sind auch ein Zeichen dafür, dass ein Kind sich sicher fühlt. s. „Pubertät“

Sichtbarkeit: Ich habe meine Hauptabrechnung bekommen und war schockiert, weil es so wenig war – weil ich nicht sichtbar bin.

Spaß: Das „brave Schreiben“, das man mir in der Schule beibrachte, zu durchbrechen, macht mir großen Spaß.

Still sitzen: s. „Essen“

U

Überforderung: Kinder müssen brav sein, wenn man als Eltern/Betreuungsperson überfordert ist, weil ein Mangel an Nerven, Zeit, Schlaf oder anderen Ressourcen herrscht.

V

Verantwortliches Schreiben: Was kann ich über nahe Personen preisgeben in meinen Texten? s. „Autofiktionalität“

W

W-Fragen: Der Druck, die richtigen Entscheidungen zu treffen, über was man wann wie wo schreibt, ist groß. Die Erwartungen sind hoch. Durch die offene Form des Autor*innenberufs können die Erwartungen immer weiter hochgeschraubt werden.

Was ist aber dann überhaupt „nicht brav“? Wenn alles Kritische eh „reingeholt“, eingepasst und letztlich marktfähig gemacht wird? Einfach ganz bei sich zu sein? Nichts zu machen? Das kann es auch nicht sein. s. „Autofiktionalität“

 

Same Work But Different: Ann Kathrin Ast

Hatte deine Mutterschaft einen inhaltlichen Einfluss auf dein Buch? 

Sehr! Nach der Geburt meines ersten Kinds habe ich mich buchstäblich sprachlos gefühlt, konnte auf Fragen wie „wie geht’s dir?“ selbst engen Freundinnen nichts antworten. Auf das Gedicht „Morning Song“ aus Sylvia Plath‘ „Ariel“ zu stoßen, hat ein bisschen geholfen. Wenige Tage nach der Geburt kamen beim Stillen dann die ersten Zeilen zu einem Langgedicht übers Gebären. Ich habe schnell gemerkt, dass ich jetzt sowieso über nichts anderes schreiben könnte, musste versuchen, das Gebären und die Veränderungen in der Wochenbettzeit in der Sprache zu bannen. Es war schön, dass mich die Arbeit an diesen Gedichten im Jahr nach der Geburt begleitet hat. Jetzt machen sie etwa den halben Gedichtband aus.

Stehst du wegen Schreibzeit oder Lesungen in der Schuld anderer Familienmitglieder?

Ja. Ein halbes Jahr nach der Geburt meines zweiten Kinds sind mein Debütroman und mein Debütgedichtband erschienen. Mein Baby war bei allen Lesungen dabei, in Berlin, Leipzig, Vorarlberg … Es ging nur, weil meine Eltern/Schwiegereltern als Babysitter mitgekommen sind. Für diese Unterstützung bin ich sehr dankbar. Im Alltag dagegen habe ich keine Entlastung, kann deshalb zurzeit fast gar nicht schreiben. Bei einem Kind ging das noch gut, bei zwei Kindern gibt es einfach zu wenig parallele Schlafphasen der Kinder, finde ich. Das heißt, ich warte jeden Tag sehnsüchtig auf den Anruf einer Tagesmutter oder Krippe, dass sie einen Platz für meinen Einjährigen haben.

Wenn dich vor der Kita ein anderes Elternteil fragt, worum es in deinem neuen Buch geht – wie würdest du es beschreiben?

Unter anderem um Geburt und Wochenbettzeit als Grenzerfahrung, die besondere Wahrnehmung und Zeitlosigkeit. Die Zweifel, die überwältigende Zartheit, die existenzielle Angst, die Suche (danach, wer dieses Kind ist und wer ich jetzt bin). Die Perspektiven von Mutter und Kind verschränken sich.
Der Text ist teils als Schnipsel wie bei einer Pinnwand über die Seite verteilt, das lässt mir und den Leuten, die es lesen, Freiräume.

Welches Stipendium würdest du auch mit Kind nicht ablehnen?

Eines, wo ich ein paarmal für einige Tage an einen anderen Ort komme für Eindrücke, Lesungen, Workshops, wo es keine dauerhafte Präsenzpflicht gibt und ich am besten die Kinder und einen Babysitter mitbringen darf, der dann auch da schläft. Präsenzpflicht finde ich nicht zeitgemäß, wo doch sonst gerade überall Homeoffice üblich ist …

Ann-Kathrin Asts Gedichtband vibrieren in dem wir erschien im Januar 2023 in der parasitenpresse.

Wenn ich groß bin, will ich aber nicht so eine Arbeit wie du!

Jedes Mal, wenn wir an einem schönen Haus vorbeilaufen, sagt meine Tochter, wie schön es sein müsse, darin zu wohnen.

Sie haben bestimmt ein Kamin darin und eine schöne Aussicht.
Ich rate ihr: Dann musst du eben Ärztin oder Anwältin werden, dann kannst du dir so ein Haus kaufen. Ich weiß, dass sie weder Ärztin noch Anwältin werden will, sie findet beides
schrecklich.

Nee, Ärztin werde ich nicht, ich werde Anwältin.

Dann musst du Jura studieren und viele Gesetzestexte auswendig kennen und viel lernen.

Jura? Was ist das? Nee, ich will lieber so eine Arbeit wie Tante.

Tante hat die Stelle auch nur durch Zufall bekommen, sie hat etwas ganz anderes studiert.

Echt?

Ja, sie hat eigentlich Übersetzen studiert. Chinesisch und Arabisch.

Das wusste ich gar nicht. Egal, ich will aber in so einer Firma arbeiten wie Tante. Das Gefühl, nicht gerade ein Vorbild für das eigene Kind zu sein, was die Berufswahl anging, traf mich diesmal etwas härter. Ich stelle mir, vor wie mein hochsensibles Kind später in einem Konzern arbeiten und so tun wird, als sei sie zufrieden mit ihrem Leben. Gleich zwei mittellose durchgeknallte Eltern zu haben, muss schon eine Bürde sein. Ich konnte wenigstens auf eine wohlhabende Familienzeit in meinen ersten acht Jahren zurückschauen
mit Kindermädchen, Urlaub, Villa am Strand, Hochzeiten, riesigen Familienfesten, Liebe von allen Seiten – aber sie? Eine Mietwohnung nach der anderen. Urlaub? In elf Jahren zweimal. Das ist bescheiden. Wir besuchten eben mehr Freunde oder gingen auf Festivals mit ihr. Aber sie tut mir leid, irgendwie. Nicht nur wegen Corona, nicht nur wegen ihren durchgeknallten Eltern, nicht nur wegen ihrer chronischen Krankheit, nicht nur wegen ihrem
Dasein als Einzelkind, nicht nur wegen dem Ausbleiben einer Einladung zu einer Hochzeit in elf Jahren, nicht nur weil das Treffen mit Freundinnen die Ausnahme statt die Regel ist. Diese Kindheit ist so anders als meine eigene, dass es mir schwer fällt, sie als schön zu empfinden. Ich werde meinen Job trotzdem nicht wechseln. Jedes Mal, wenn ich sage: Ich habe eine gute Nachricht, fragt sie, hast du einen Job bekommen? Habe ich ihr meine Existenzangst vererbt? Wie oft fragte ich mich, ob unsere bescheidene Behausung der Grund sei, warum sie keine Freundin nach Hause einlädt.
Nach neun Tagen Quarantäne musste ich mit ihr in die Klinik. Als wir nach drei Tagen nach Hause durften, sagte sie, sie wolle lieber in der Klinik bleiben, einfach mal was anderes sehen. Urlaub in der Kinderklinik sozusagen.
Diese triste Kindheit von mittellosen Eltern, was wird sie mit ihr anstellen? Werden diese Kinder uns eines Tages als zu offen und egozentrisch und sich selbst als konservativ bezeichnen? Werden sie ein Kredit aufnehmen, um auf einer Privatuni zu studieren? Die Kinder der 68er wurden ja die größten Spießer, sagt man, vielleicht wird meine Tochter ja in einer Bank arbeiten, um immer Geld um sich zu haben und die Kontrolle darüber. Wenn auf
Menschen kein Verlass ist, muss es wenigstens aufs Geld sein. Wird sie auf ihre innere Stimme hören, die vielleicht gerne etwas ganz anderes gemacht hätte, etwas nicht wirklich Lukratives? Wie bringt man Kindern bei, dass Geld nicht glücklich, aber vielleicht etwas
sorgloser macht?

confession

vertrauen darauf dass sich etwas verschiebt sich in zellen die körper bilden jeden tag verschiebendes zusammenlegt diesen körper zu bilden und dass zellen aus dem körper fallen und (vielleicht ich) neue körper bilden vertrauen darauf dass die zellen (dieses und außerhalb dieses körpers) wissen wo sie die stoffe finden dass und sie sich verschieben etwas bilden können dass sie aus teilchen (vielleicht ich) leerer als luft und licht bestehen vertrauen darauf dass (und wo)

Same Work But Different: Anna Ospelt

Hatte Deine Mutterschaft einen inhaltlichen Einfluss auf Dein Buch?

Ja – in meinem Buch geht es um die Anfänge des Lebens und die gesellschaftliche Frage, was es heute bedeutet, Mutter zu sein. Beziehungsweise, was es bedeuten kann, aus meinem Blickwinkel als freischaffende Autorin. „Frühe Pflanzung“ nimmt die Leser:innen mit auf eine Reise durch die vier Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Ich beschreibe die Natur um uns herum, von den Vögeln im Garten bis zu den sich verändernden Gesichtern der Berge. Zugleich reflektiert das Buch meine Erfahrungen eines Rollenwechsels, mit meinem Neugeborenen im Arm während dieses ersten Jahreszeitenkreises.

 

Hatte Deine Mutterschaft Einfluss auf die alltägliche Schreibarbeit?

Die Zeitfenster sind wesentlich kleiner. Entweder schreibe ich, wenn meine Tochter betreut ist, oder aber wenn sie schläft, ich schreibe nun gewissermaßen auf Zehenspitzen. Auch wenn ich mich oft nach mehr Zeit sehne, schreibe ich mehr und fokussierter, seit ich Mutter wurde, wohl weil die Kunst ein rares Gut wurde. Aber nur dank der geteilten Elternschaft mit meinem Partner und einem hilfsbereiten Umfeld, einem Eingebettetsein in diverse Privilegien, war ich in der Lage, zwei Jahre nach der Geburt meiner Tochter mein zweites Buch herauszubringen.

 

Was hast Du gerade gemacht, als das Paket mit den Belegen eintraf?

Tatsächlich war ich mit meiner Tochter auf dem Weg zum Spielplatz, als das Kuvert mit dem ersten Buch eintraf. Als sie vertieft im Sandkasten spielte, öffnete ich den Umschlag und betastete, betrachte mein Buch. Ein schöner, inniger Moment. Später sagte meine Tochter in Bezug auf das Buch: „Ich habe auch mitgemacht!“ – wie wahr!

 

Was hältst Du davon, das Entstehen eines Buches mit dem Heranwachsen eines Babys zu vergleichen und sein Erscheinen mit der Geburt? Ist dieser Vergleich für Dich stimmig?

Ich finde ihn oft etwas an den Haaren herbeigezogen: eine Buchvernissage macht wesentlich mehr Spaß als eine Geburt, und eine Lesereise ist wohl das Gegenteil einer Wochenbetterfahrung. Allerdings gibt es doch Parallen zwischen der Schwangerschaft und dem Schreiben: «Schließlich ist jeder, das heißt, jeder, der schreibt, daran interessiert, in sich selber zu leben, damit er sagen kann, was in ihm drinnen ist.» — Gertrude Stein

 

Welche*n other writer würdest Du gern zufällig auf einem Spielplatz treffen und worüber würdest Du mit ihm*ihr sprechen?

Vielen! Heute ganz besonders gerne Simone Scharbert, deren Arbeit ich sehr schätze und mit der ich mich während der Arbeit an meinem neuen Buch regelmäßig austauschen durfte – allerdings via Zoom aufgrund unserer weit voneinander entfernt liegenden Wohnorte.

 

Anna Ospelts zweites Buch „Frühe Pflanzung“ erschien im März 2023 im Limmat Verlag.

Meine Schreibroutine am frühen Morgen:

Nackte Kinderfüße auf der Treppe gegen sechs.

Meine Schreibroutine am Abend:

Es ist noch so hell, Mama, es kann ja gar nicht Schlafenszeit sein.

 

Mittlerweile bin ich routiniert darin, den Alltag nach Ritzen abzutasten,

in denen ich kurz verschwinden und schreiben kann.

Das läuft gut, sogar auf Spielplätzen oder im Zoo.

Sicher, die Ritzen könnten etwas größer sein,

oft passt nicht viel Text hinein.

Aber ich bin froh, dass es sie gibt,

nah am Kind und nah am Text.

Variation für gute Tage

Ich stelle den heißen Tee neben den Laptop und starte den Timer. 30 Minuten habe ich Zeit.

Solange machst du Mittagsschlaf. Solange übt deine Schwester Klavier.

Mit langen Pausen zwischen den einzelnen Noten spielt sie ein Stück namens Orgelklang.

A-E-C-E-G-A-C-A-G-H. In endloser Wiederholungsschleife.

Du hast dich an die Tonfolge gewöhnt.

Brauchst sie wie meine Hand, damit du einschläfst.

Jetzt habe ich nur noch 28 Minuten.

Ich weiß doch, wie knapp die Zeit ist.

Weshalb mache ich auch erst Tee, bevor ich zu schreiben beginne?

A-E-C-E-G-A-C-A-G-H.

In der Musik ist die Variation die Veränderung eines Themas.

In der Variation ist es erlaubt, Rhythmus und Melodie zu verändern.

Töne hinzuzufügen. Akkorde umzudeuten und zu ersetzen.

A-E-C-E-G-A-C-A-G-H.

Aber Variationen sind etwas für gute Tage. Für Variationen braucht man Mut.

Schritte tapsen in Richtung Musik. Eigentlich habe ich noch 17 Minuten.

Ich warte auf Geschrei. Aber als ich komme, sitzt du unter dem E-Piano.

Andächtig hörst du deiner Schwester und der neuen Tonfolge zu:

A-C-A-G-E-C-A-G-A-H.

 

„Kommt ihr noch kurz ohne mich zurecht?“ – Nicken.

Ich setze mich zurück an den Schreibtisch.

Der Tee ist noch warm.

 

In den schlimmsten Phasen der Einschlafbegleitung

(sie sind zum Glück vorbei) rechnete ich ständig aus, wie viel Lebenszeit mich dieses Ritual kosten würde. Damals lag ich Abend für Abend rund 60 Minuten neben einem Kind. Im Wohnzimmer, das wusste ich, wartete der Laptop mit E-Mails, die beantwortet werden wollten. (Ein Vertrag für eine Lesung. Die Frage von einer Kollegin. Ein berufliches Treffen.) Oder ein Rechercheauftrag. (Sandalen Größe 26. Mineralische Sonnencreme. Länderwoche in der Kita: wer kann etwas beisteuern?) Manchmal wartete sogar ein Buch. (Es war die Rachel-Cusk-Phase.) Aber ich lag auf dem Boden und hielt ein kleines Händchen, jeden Abend eine Stunde, also 365 Stunden im Jahr. Das waren 15 Tage pro Jahr! Wenn das so weiterging, bis das kleinere Kind sechs war (damals war es eins), dann wären das 75 Tage! 75 Tage meines Lebens, in denen ich auf dem Boden liegen und ein kleines, liebes Händchen halten würde! Da ich ein Drittel des Tages schlief, nein, diese Zeiten waren vorbei, sagen wir realistischerweise: ich schlief ein Viertel des Tages –, da ich also ein Viertel des Tages schlief, wären das nicht etwa nur zweieinhalb Monate, sondern (hier wurde die Rechnung kompliziert) sogar etwas über drei Monate. 93 Tage meines Lebens würde ich auf dem Boden liegen, ein kleines, liebes, warmes Händchen halten und Lieder singen! Einschlaflieder. (Guten Abend, gute Nacht. Weißt du, wie viel Sternlein stehen?) Lieder aus meiner Kindheit. (Die Heimat hat sich schön gemacht. Der kleine Trompeter.) Choräle aus meiner Zeit im Unichor. (Wie soll ich dich empfangen? Ehre sei Gott in der Höhe.) 93 Tage, diese Zahl machte mich unglaublich wütend, und ich erinnere mich noch gut an diese Wut. Gleichzeitig denke ich heute: Drei Monate, was ist das schon? Schau dir an, wie groß diese Hände jetzt sind! Und doch glaube ich, dass ich diese Wut nicht wegwischen darf. Dass ich vielmehr einen Raum finden möchte zwischen der damaligen Wut und meiner heutigen Gelassenheit. Dass ich diesen Raum besser kennenlernen möchte für alles, was noch auf mich zukommt.

Fast wie früher

Die Müllabfuhr weckt mich. Den ersten Kaffee trinke ich nackt in der Sonne auf dem Balkon. Ich dusche den Boiler leer. Ich setze mich mit einer Zeitung ins Café. Ich teile mein Fischbrötchen mit dem orangenen Kater, der auch den Ausflugsdampfern nachsieht. Im Museumsshop kaufe ich einen Bildband und lege mich damit ins Gras. Wie lange blüht eigentlich schon der Flieder? Statt ins Kino zu gehen oder ins Theater, schlendere ich nach Hause. Ein vertrautes Gesicht hält mich an, Mensch, was machen die Kinder? Die stille Wohnung fülle ich mit Musik. Tanzend topfe ich die Glückskastanie im Schlafzimmer um und räume die Wäsche weg. Die Bratkartoffeln ertränke ich in Ketchup. An einem Bier nippend lese ich Ilse Aichinger, bis mir die Augen zufallen. Alles gut bei euch?, schreibe ich aus dem Bett. Du fehlst uns, kommt es zurück. Und du? Kannst du gut arbeiten? Ja, fast wie früher.

 

Wenn – dann

Wenn ich sage, wir können auch erst Zähne putzen und dann den Pyjama anziehen, dann kannst du darauf bestehen, dass das Nachtlicht anbleibt.
Wenn ich die Datei heute Abend wieder nicht öffne, dann werde ich es morgen auch nicht tun – zuletzt geöffnet vor vier Wochen.
Wenn ich dir beim Anziehen der Schuhe helfe, dann muss ich jedes Mal diskutieren, ob du auch heute dafür zu müde bist.
Wenn ich an dem Kapitel heute nicht weiterschreibe, dann sind mir die Sätze endgültig entglitten. „Wenn dann“ hat in Erziehungsratgebern auf Augenhöhe keinen Platz, wenn es nur um das Androhen von Konsequenzen geht. Ich möchte glauben, dass ich Rücksicht nehmen und von Routinen abweichen kann, auch wenn du Bausteine gegen die Wand wirfst, weil du gestern ausnahmsweise vor dem Kindergarten noch spielen konntest.
Wenn ich nicht so müde wäre, hielte ich nicht so krampfhaft an Plänen fest.
Und dann geht es plötzlich doch, dass du das Brotmesser zurücklegst, ohne dass sich jemand von uns schneidet.
Wenn ich mir heute erlaube, die Augen zu schließen und den Text sein zu lassen, kommt vielleicht trotzdem der Tag, an dem ich nicht nur im Kopf schreibe.