Vorhin lag ich …

… mit meinem Kind auf dem selbstgezimmerten Sofa, das Ipad auf dem Schoß, weil uns aufgefallen war, dass wir schon sehr lange keinen Sandmann mehr geguckt hatten; also suchten wir zwei alten Nostalgiker uns eine Folge auf Youtube raus. Es ging um Pittiplatsch, der Schnatterinchens Puppenwagen in die Regentonne gestoßen hatte; nun hatte er Angst, dass sie sauer wäre und ihn vollmeckern würde. Was macht der schlaue Kobold da? Er erweckt mit einem Zauberspruch seinen Schatten zum Leben und schickt ihn vor, damit er für ihn geradestehen muss. Der Schatten ist aber von ganz anderem Gemüt als Pittiplatsch. Er entschuldigt sich, dass er so unachtsam drauflos gespielt hat, und kann sich auch nicht erklären, wieso er ausgerechnet mit ihrem Wagen Fischerboot spielen wollte. Schnatterinchen ist ganz überrascht von diesem ehrlichen, gutmütigen Pitti, verzeiht ihm, und gemeinsam stellen sie den Wagen in die Sonne, auf dass er schnell trockne.
Als die Gefahr für den echten Pitti vorüber ist, kommt er aus seinem Versteck und will wieder seinen Platz bei seiner lieben Freundin einnehmen. Wie macht er das? Er schubst seinen Schatten einfach zur Seite. Da geht dann Schnatterinchen dazwischen und vertreibt den echten, hinterhältigen Pitti, über den sie nur den Kopf schütteln kann, vom Hof.
Da geschieht nun aber etwas Komisches. Der Schatten, der ja von Pitti befreit wurde, rennt trotzdem seinem ursprünglichen Besitzer hinterher. Pitti ergreift seine Chance, sagt ein Sprüchlein auf, pfeift laut, und schon versinkt der Schattenpitti wieder im Erdreich.
Der alte Pitti ist zurück.
(Und was sonst hätte er auch tun sollen? Seinen Platz im Leben an diese bessere Version seiner selbst abtreten?)
Was das Sandmännchen von dieser Geschichte wohl halten mochte? Es winkte freundlich und ließ uns seinen Sand in die Augen wehen.
Vielleicht war mir einfach langweilig, als ich noch ein paar Minuten im Dunkeln bei meinem Kind lag; es hielt meinen Daumen umklammert, um mich nicht wegzulassen. Ich habe jedenfalls versucht, mich in Pittiplatsch hineinzuversetzen. Würde ich, wenn es eine bessere Version von mir gäbe, die sicherlich denkbar wäre, meinen Platz an diese abtreten? Ihn einem sehr viel engagierteren, produktiveren, großherzigeren und viel besser gelaunten Schattenlorenz überlassen? So schlecht bin ich nun auch wieder nicht, versuchte ich mich herauszureden, denn natürlich würde ich komme-was-wolle mein Leben führen wollen. Andererseits verzichtete ich ja doch ein wenig auf mein Leben, wenn ich im Dunkeln beim Kind lag, und es gibt ja diese große Hoffnung von Eltern, dass die Kinder eben jene fähigeren Versionen ihrer unfähigen Elterngeneration werden könnten, versuchte ich mich wiederum rauszureden. Denn was ich hier tat, im Dunklen beim Kind wachliegen, das war ja schon mein großartiges Leben, auf das ich in keinem Fall verzichten wollte, so langweilig und zäh es sich mitunter auch anfühlte. Ich wollte ja überhaupt nichts anderes tun, nur deshalb lag ich immer noch neben meinem längst schlafenden Kind. Ich wollte gar nicht raus aus seinem Zimmer, um über ein paar müden Zeilen zu brüten oder Zeitungsartikel über den desaströsen Zustand unserer Welt zu überfliegen, ich wollte weder aktuelle Neuerscheinungen noch altbewährte Klassiker lesen, keine zur Zeit erfolgreiche Serie gucken, keine Emails schreiben, nicht telefonieren, nichts erledigen, ich wollte einfach im Dunkeln wachliegen, neben diesem Menschen, dem ich mickriger Pittiplatsch eine ganze Welt bedeutete.
Irgendwann weckte mich eine Hand, die sanft gegen meine Schulter stieß, und ich hörte, wie ich flüsternd gerufen wurde: Komm jetzt, los!

von schreien zu schreiben

feuchtigkeit zwischen den beinen splitterbruch im kleinen finger
mit dem man erledigt was keines aufhebens wert diese liebe steht
und fällt in pastellerwartungshaltungen verstärkt farbgebung die stimmung
im handlungsbogen darf ich sprechen oder schweigen der unterschied
verwäscht perpetua mobilia schwimmende farbwechsel
von schreien zu schreiben ich als chamäleontarnfarbener geheimtipp
den es noch zu entdecken gilt ich im trainingsanzug beim waldlauf mit anspruch
auf vollständigkeit unversehrtheit den zeitgeist im nacken ich als piktogramm
handlungsanweisung haustierfrau nicht auf gedanken ideen kommen
es könne anders sein als muttermuttertier ich als bezaubernde
vermeidungsstrategie ich mit dem selbstbewusstsein einer assgebleachten
königin ich als spitze der gesellschaft ich als brutales ödland
ich als penetration in malerischer labiamajoralandschaft lebensgroß
als versöhnung als gefahr oder kontrollparadigma ich als geschichte in der
geschichte ich als weiß der popupinupschablone ich als aktuelle generation
ich als final girl ich als position einer vielseitigen leerstelle
ich als vorstellung vom rande europas
ich als momentaufnahme im augenwinkel
ich als geräusch
von schreien zu schreiben

(Auszug aus „Protokolle der Gegenwart“, Verlagshaus Berlin, 2019)

Ein historischer Moment

Three. Two. One. Zero. Bevor wir an diesem Pfingstmontag zu unserer Radtour aufbrechen, schaue ich mit den Kindern den Raketenstart an. Der Feuerstrahl drückt die Falcon 9 in den Überschall, das Kennedy Space Center verschwindet in einer Rauchwolke, es ist ein historischer Moment. L. fragt, ob die Rakete noch höher fliegt, und ich sage, ja, noch viel, viel höher, und überlege, was genau eigentlich daran so bedeutend sein soll. Dass die Astronauten mit dem Tesla zur Startrampe gefahren werden? Oder dass die Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt Launch America überschatten? Der US-Präsident erscheint auf dem Bildschirm, ich klappe den Laptop zu und versuche die Kinder dazu zu bewegen, Schuhe und Jacken anzuziehen und die Wohnung zu verlassen. Was ist eigentlich das Gegenteil von Schallgeschwindigkeit? Dass man lauter und lauter wird und alles dabei zum Stillstand kommt?
Endlich rollen die Räder über die Waldwege. Lesen, ich würde jetzt gerne lesen, der Verantwortung und den Ansprüchen kurz entfliehen – wir gucken Wildschweine an. Die Bachen wühlen mit den Schnauzen die Erde auf, und ich belausche das Gespräch nebenan. „Dreimal hat sie es schon versucht, mit Gepäck und allem, und dreimal musste sie wieder zurück ins Hostel“, sagt eine Frau, deren Tochter auf ihrem Work & Travel-Jahr in Neuseeland offenbar ein Virus in die Quere kam. Eine Pandemie ist doch ganz anders, als ich sie mir vorgestellt habe. Man kann Wildschweine anschauen, und es ist leichter, die Erdanziehung zu überwinden, als den Kontinent zu wechseln.
Die Kinder haben sich rasch satt gesehen, sie steigen freiwillig in den Anhänger, und nach wenigen Minuten ist es verdächtig still hinter mir. Ich steige ab und schaue mir an, wie sie nebeneinander schlafen. Sie schlafen nicht Hand in Hand, haben aber die Köpfe wie einer unausgesprochenen Abmachung folgend gegeneinander gelehnt. Zuletzt passiert es nur noch selten, dass sie zeitgleich Mittagsschlaf machen, und es scheint mir jedes Mal wie ein historischer Moment. Ich habe vorgesorgt für diesen Moment und schiebe das Rad zur nächsten Bank. Ich habe blindlings eines der angelesenen Bücher in den Rucksack geworfen, suche nach der Seite mit dem Eselsohr, fahre mit dem Finger die Zeilen entlang, three, two, one, zero: Liftoff, we have a liftoff!

Maske

Gleich nach dem Aufstehen wirst du die Maske für ihn fertig nähen. Dieses Stück schwarzer Stoff mit drei roten Herzen darauf. Die Herzen sind mit Wachsstift gemalt und dir beim Bügeln verlaufen, sie sehen wie verzerrte Kussmünder aus.
Vor ein paar Tagen hat M. neben dir vor dem Bügelbrett gestanden, das schwarze Stück Stoff in die Hand genommen und gefragt, ob du das gemalt hättest. Du hast genickt und in deinem Kopf die Stiche gezählt, die du noch vor dir hattest, um den ganzen Haushalt mit Schutzmasken zu versehen, es waren unendlich viele.
Ob er die Maske haben könnte, wenn sie fertig wäre, hat dich M. gefragt und du gesagt, selbstverständlich. Damals hast du gelächelt. Du hast gelächelt, weil du es magst, das M. gerne mit femininem Design Blicke auf sich zieht. Du hattest dich an M. gewöhnt, an seine Schwäche für Schönheitsprodukte, er konnte die Marke deines Parfums am Geruch erraten und gab dir Tipps bezüglich Cremes für alle Hauttypen deiner Familie.
Einmal hast du im Garten gestanden, als M. gerade von einer seiner Touren zurückkam. Eine befreundete Mutter hatte dir schon auf WhatsApp erzählt, dass sie euren Aupairjungen ja auffällig oft durch die Straßen ziehen sehen würde. Als Apothekerin arbeitete sie trotz Lockdown weiter.
Er brauche halt Bewegung, das wäre so bei jungen Männern, hast du geantwortet. Und nicht weiter darüber nachgedacht.
Als M. durch das Gartentor trat, nicktest du freundlich, und es wäre dir auch gar nichts aufgefallen, wenn er nicht auf dich zugekommen wäre, auf sein Gesicht gezeigt hätte und dich fragte, was du davon halten würdest.
Du musstest zweimal hinschauen, um die auf sein Gesicht gezeichneten Sommersprossen zu entdecken.
Ja, sehr schön, hast du gesagt, irritiert gelacht, weil du unsicher warst, was von dir erwartet wurde.
Es sei eine Herausforderung auf Facebook gewesen, die er angenommen hätte.
Aha, hast du gesagt und dann war er auch schon weg, und du hast dich gewundert, was das für junge Leute sind, heute, die sich gegenseitig herausfordern, sich Sommersprossen auf die Nase zu malen, und damit durch von der Pandemie leergefegten Straßen zu laufen. Aber vielleicht war auch das Corona, die Jugend musste sich irgendwie zu beschäftigen wissen und dann halt so, herumlaufen, geschminkt, sieht ja eh keiner.
Heute tut es dir leid, dass du nicht verstanden hat, dass M. in dir eine Freundin suchte, eine Vertraute, eine erfahrene Frau, die er um Rat fragen, vielleicht sogar um Unterstützung bitten konnte, du hast die Zeichen nicht deuten können, hast nicht verstanden, dass du es warst, die um Hilfe gebeten wurde. Du wolltest M. einfach als Hilfe für dich, damit du deine Arbeit machen konntest, während er die Kinder versorgte. Sich um sie kümmerte, hinter verschlossener Tür, um dir deine Ruhe zu lassen, dein Zimmer für dich allein.

Auszug aus einer längeren Erzählung

Ich erinnere mich

… an so viele mother situations. Besonders gern erinnere ich mich an einen Abend in einem renommierten Institut in Süddeutschland. Ich hatte eine Ausstellung, mein Sohn war etwa 18 Monate alt und ich war bei einem Abendessen mit allen important people. Vor allen wurde ich vom Institutsleiter gefragt, ob mein Mann das denn alleine hinbekomme mit dem Baby so ohne mich. Ich war so wütend, wusste gar nicht, worüber ich wütendsten war:
a) dass er meinen Freund als meinen Mann bezeichnet
b) dass er zu wissen glaubt, dass ich eine heterosexuelle Beziehung habe
c) dass er denkt, eine Mutter sei doch das Beste
d) für ein 1,5 Jahre altes ‚BABY’
e) dass ich mein Kind bei einer inkompetenten Person lasse
f) dass ich einen inkompetenten Partner habe
g) bäh!
Ich atmete schwer durch und antwortete: „Selbstverständlich! Ging das bei Ihnen nicht?“ Und die Stille im Raum war atemberaubend laut.

Das Problem liegt woanders

Mittlerweile denke ich, das Problem liegt gar nicht so sehr im Schreiben, denn das kann man zur Not als charmant und authentisch verkaufen (und das müssen wir). In Wahrheit wurde das kurze Stück mit letzter Kraft direkt vorm Umfallen des Abends kreiert, falls hier kreiert das angemessene Wort ist, im Vertrauen darauf, dass man „seine Hausaufgaben gemacht hat“. Ja, genau. Die Hausaufgaben! Was war das noch mal? Da steht ganz oben: denken. Nachdenken, bevor man was schreibt. Eben nicht einfach mal so auf die Schnelle, wie es, tsss, jede Bloggerin kann (ha-ha), oder Oli Pocher, die arme Nudel. Mal hypen oder haten oder gleich ein Video aufnehmen, Abstieg, soziale Ächtung, Abgrund, das Nichts. Das will ich verhindern: Ich muss geistig richtig tätig sein, also richtig tief denken (heißt es angeblich), und um zu denken, muss ich lesen. Wer nicht liest, denkt schlecht, sagen wir einander. Aber wann soll ich lesen? Lesen fühlt sich am schlimmsten, am unproduktivsten, am nutzlosesten von allen Beschäftigungen an, denn ich lese Schönes. Gut, es gab einmal eine Zeit, da sollten Inhalt und Form zueinander finden wollen, also das Schöne auch nützlich sein. Lese ich bei Lu Märten, zum Beispiel. Aber dieser Anspruch ist schon länger her. Wie kann ich rechtfertigen, dass ich das lese, obwohl ich nicht muss? Die Sachen, die ich lesen muss, fühlen sich ein bisschen legitimer an, aber dadurch zählen sie nur halb, denn sie werfen einen Nutzen ab. Zweckloses Lesen ist also der härteste Brocken an der Geschichte mit dem Schreiben. Ich lese gern.

Der linke Verlagsboss (oder von der Selbstversklavung, in Zeiten vor Corona)

Es ist Mittwoch oder Donnerstag. Die Assistentin eines wichtigen Verlagsbosses, der für seine links engagierten Positionen bekannt ist, schreibt dich an. Sie fragt, ob du Zeit hättest, ein Manuskript in einer fremden Sprache zu lesen und ein Gutachten für sie zu schreiben. Du musst bis Ende der Woche eine wichtige Bewerbung für ein Stipendium abschliessen und eine Übersetzung abgeben. Du hättest also am Anfang der nächsten Woche Zeit. Es ist aber dringend, erwidert sie und schickt dir gleich das Manuskript mit, du hättest ja Interesse geäußert. Du könntest das Gutachten am Dienstag abgeben, sagst du. Das wird zu knapp, sagt sie: Am Montag wird dich schon der Verlagsboss anrufen, um deinen Eindruck zum Text zu hören. Schwierig, denkst du. Am Montag hast du nämlich deinen Sohn, schreibst du ihr, worauf du keine Antwort erhältst. Du beschließt also, Gas (Turbo, Diesel …) zu geben, und bist schon am Freitagvormittag mit dem Stipendiumsdossier fertig. Am Freitagnachmittag liest du das Manuskript und schreibst der Verlagsassistentin, du könntest ihr bereits an diesem Tag einen ersten Eindruck vermitteln. Sobald du fertig gelesen hast, sollst du sie anrufen, sagt sie. Um 17 Uhr rufst du an. Sie bedankt sich. Der eigentliche Anruf, der Anruf vom Verlagsboss, der am Freitag um fünf nicht mehr im Büro ist, steht aber noch aus. Er wird am Montag anrufen, verkündet sie. Am Samstag sind dein Freund und du zwar mit dem Kind alleine, du bringst aber trotzdem die Übersetzung zu Ende. Am Sonntag schreibst du das Gutachten zum Manuskript, während das Kind schläft. Du schickst das Gutachten ab und betonst, du würdest nur am Montagvormittag erreichbar sein. Dein Freund entscheidet, am Morgen nicht arbeiten zu gehen, damit du den Anruf entgegennehmen kannst, es sei ja schließlich wichtig. Um 10 Uhr bekommst du eine Mail, sie bedankt sich. Sobald der Verlagsboss verfügbar sei, würde er anrufen. Also wartest du. Du wartest. Dein Freund wartet. Das Kind wartet. Am Nachmittag geht dein Freund schliesslich zur Arbeit. Du packst das Kind in seinen Kinderwagen. Ihr spaziert zur Tramhaltestelle. Es regnet. Du legst die Regenschutzhülle um den Kinderwagen, die das Kind aber immer wieder abreißt. Ihr sitzt an der Tramhaltestelle, er im Kinderwagen unter der halb heruntergerissenen Regenhaube, du auf der Bank und im Regen. Es ist fünfzehn Uhr. Dein Handy klingelt. Der Verlagsboss hat eine sympathische Stimme und fragt, ob der Moment gerade für dich günstig sei. – Ääh nein, nicht wirklich, entschuldigst du dich. In einer Stunde wäre es besser, in einer Stunde wird es bestimmt besser sein, antwortest du. Ihr fahrt zur Musikstunde. In der Musikstunde betreuen zwei Musiklehrerinnen fünf Babys und fünf Elternteile. Du fragst, ob du das Kind kurz mit den Betreuerinnen alleine lassen kannst. Du gehst aus der Musikschule raus in den Hof. Du rufst den Verlagsboss zurück. Ihr beginnt, das Manuskript zu besprechen, das du vielleicht übersetzen wirst. In dem Text geht es um häusliche Gewalt und Selbstermächtigung. Du verteidigst den Text aus einer feministischen Perspektive heraus. Drei Minuten später kommt die Musiklehrerin in den Hof und bittet dich, schnell wieder reinzukommen. Du machst dir Sorgen. Ist etwas mit deinem Kind? Der Verlagsboss redet weiter, er sieht nicht, dass du gleichzeitig flüsterst und Handpantomime machst, du antwortest „ja“, „nein“, irgendetwas, du hast keine Ahnung, was du antwortest. Du brichst den Anruf so schnell wie möglich ab und gehst wieder rein. Dein Kind spielt auf dem Teppich. Es geht ihm prächtig. Du fragst, was denn so dringend gewesen sei. Nichts, erwidert die Musiklehrerin: Sie fand einfach, du wärst schon zu lange weg.

Lieber Literaturkritiker …

Unterfelden, den 17. Februar 2018

Lieber Literaturkritiker,

so kocht man Grießkoch:
Man nehme 500 ml Milch, 90 g Grieß, 2 Esslöffel Zucker, 1 Esslöffel Butter, 1 Prise Salz. Zuerst die Butter und die Milch in einen Topf geben und bei mittlerer Hitze langsam zum Kochen bringen. Mit Salz und Zucker würzen. Sobald die Milch aufkocht, langsam den Grieß einrühren. Für 2 bis 3 Minuten leicht köcheln lassen, dabei beständig rühren, bis der Brei die gewünschte Konsistenz bekommt.
Umso länger der Brei gekocht wird, umso fester wird er.

Du meinst, das interessiert keinen? Genauso wenig, wie es jemanden interessiert, wenn ich vom Wäschewaschen schreibe, vom Windelwechseln, von den Ausscheidungen meines Kindes, oben und unten, von meiner Müdigkeit?
Mich interessiert es eigentlich auch nicht, weißt Du. Und ich würde auch lieber über etwas wirklich Dringliches schreiben, was immer das dann wäre. Aber oben genannte Dinge sind leider im Moment die dringlicheren, für mich. Soll ich deshalb gar nichts schreiben? Den Mund halten? Oder Märchen erzählen, weil das besser zu Müttern passt?
Entschuldige, das war polemisch, und ich weiß, das führt zu nichts. Kennst Du das Märchen vom süßen Brei? Würdest Du unter süßem Brei begraben werden wollen? Nein?
Also, vielleicht kannst Du mich ja doch ein wenig verstehen.

Literarische Grüße,
eine Schreibende

Auszug aus: Simone Hirth (2020): Das Loch. Roman. Kremayr & Scheriau.

Wie lange?

Wie lange hält das jetzt schon so an? Fünf Wochen, sieben Wochen, Monate, Jahre? Wie lange schon scheine ich in einen zersplitterten Spiegel zu schauen? Wie lange schon pendele ich zwischen optimistischen Prognosen (die Gesellschaft wird eine neue, eine bessere werden, nicht mehr Wachstum wird wichtig sein, sondern das Gemeinwesen, Solidarität) und hypochondrischen Panikattacken? Wie und wann kann ich wieder Ruhe finden, Gelassenheit? Seit Wochen ist es ein Überbrücken, ein Durchstehen, nein, das ist nicht viel Romantik dabei, auch wenn es durchaus schöne Momente gibt. Die Tage ähneln sich mehr und mehr, Unterschiede verschwimmen (was war nochmal Wochenende?), die Stimmung irgendwo zwischen Gereiztheit, Müdigkeit und der stillen Hoffnung, dass es bald doch wieder so werden möge wie vor der Krise, aber wie war das denn damals, vor der Krise?
Wir haben einen Stundenplan gemacht, damit die Tage nicht völlig ausfransen, wir arbeiten im Garten, nehmen die ungewöhnliche Stille wahr (wir wohnen ganz in der Nähe des Frankfurter Flughafens, ein ständiges Brummen lag bisher immer in der Luft, weshalb der Unterschied jetzt, wo nichts mehr fliegt, so einprägsam ist).
Draußen lärmen die Vögel, der Frühling breitet sich ungeachtet aller Krisen, aller Zustände aus, es ist nicht die Natur, die verrückt spielt, sondern wir, die davon aber nichts wissen wollen. Wie wird meine Tochter diese Zeit in Erinnerung behalten? Als einen seltsamen Schwebezustand, als endlose Ferien ohne Freunde? Als eine Zeit, in der Papa zu oft mit dem Bildschirm sprach und dazwischen lange in den Garten starrte? In der Mamas Schicht in der Klinik nicht nach sieben, sondern nach neun, nach zehn Stunden endete? Wie werden wir zurückblicken auf diese Tage? Mit einem Schaudern, einem verklärten Blick (wie still es damals war, wie eng wir alle zusammenrückten) oder gar nicht?
Das Außergewöhnliche, das Neue wird langsam und unmerklich Alltag (das Kind zuhause, die Schule längst vergessen, die Freunde erstarrt im Freundschaftsbuch, Schreiben in den Randzonen des Tages), aber noch sind überall bloß Fragezeichen.

Winkelkinder

was ist das Eigene am gerundeten Kind, der finnische Tango
grüßt im Hintergrund mit süßer Schwere, die Hand knickt
im Schlaf ab, leicht geöffnete Finger, der Mund sowieso
ob mein oder dein Winkel, Widerhall auf jeden Fall

—–

schon lange nicht mehr essen, was auf … warten nicht, bis …
aber es soll doch, gepflegter Tausch aus, Anschauen, klirr
zappeln die Kinderhände, sprechen wir zu Sternen
oder teilen Mundverbot aus. Unser tägliches Brot …

—–

spielen wir mehr, Mensch, nicht ärgern, grün, rot
angezählt, ausgezählt, unser Schicksal kippt voran
quadratisch, rund, Kind, lass mich in deiner Bahn
ich leg ja das Handy weg, Würfel schenk uns Ruh‘