Masken

Wir müssen uns jetzt noch viel mehr als vorher auf unsere Augen verlassen. Es ist so schwierig zu sehen, wer hinter der Maske noch lächelt. Über den dreiundzwanzig Masken dreiundzwanzig Augenpaare. Manche Kinder meiner Klasse tragen süße selbstgenähte Masken mit Dinosauriern oder Einhörnern, manche, so wie ich selbst, die lieblosen blauen OP-Masken, die im 50er-Pack aus dem Internet kommen. Einem Kind beschlägt ständig die Brille. „Ihr dürft sie jetzt abnehmen“, sage ich, „aber nicht auf den Tisch legen. Ab damit in die Tasche.“ Die Kinder verstauen die Masken irgendwo am Körper oder im Rucksack und beginnen, Spaghetti Bolognese in sich reinzuschaufeln. Neben uns essen drei weitere Stöpsel-Klassen in der Mensa. Es gibt nur wenige Fenster. Einige Straßen weiter sitzen meine eigenen Kinder in ihrem Kindergarten. Mittagessen gibt es dort seit Wochen nicht mehr. Personalmangel. Die zweite Lunchbox für die Große, die als Ersatz dienen soll, habe ich heute vergessen, weil der Kleine geschrien hat. Wenn man sich in der Mensa unterhalten will – und das wollen alle –, dann geht das nur sehr laut. John-Lukas erzählt von Minecraft. Spaghettifetzen fliegen aus seinem Mund auf Leons Teller. Leon will sich beschweren und wirft sein Glas um. Er darf nicht selbst sauber machen. Das Mensapersonal kommt, wischt und sprüht mit Desinfektionsmittel um sich. Aerosole landen auf meinem Teller und hinterlassen einen bitteren Geschmack. Majas Eltern beschweren sich, weil ich im Unterricht zu viel, Luisas Eltern, weil ich zu wenig lüfte. Luisa sitzt am Tischende und starrt auf ihren Teller. „Was ist denn los?“, frage ich. Sie zuckt mit den Schultern, sie hat ihre FFP2-Maske nicht abgesetzt. „Hast du Angst, dich anzustecken?“, frage ich. Sie nickt. Ich weiß nicht, was ich ihr raten soll. Vor zwei Wochen gab es drei Fälle in meiner Klasse. Eine Woche zuhause, das war’s. Das Gesundheitsamt ist kaum zu erreichen. Tests werden wenn, dann freiwillig gemacht und bezahlt. Währenddessen Angst, die eigene Familie, meine Kinder oder sonst wen angesteckt zu haben. Abends die Übersetzung der Unterrichtsstunden ins Digitale und kaum noch Zeit für das Buch. Das Buch, das fertig werden soll trotz Job und Masken und Kindern. Luisa holt ihre gelbe Brotdose mit Minion-Motiv aus dem Rucksack. Sie neigt ihren Teller und kippt einen Teil der Nudeln hinein, neben ein angebissenes Stück Apfel. „Für später“, sagt sie und schließt den Deckel. Ausnahmsweise lasse ich sie gewähren. Es klingelt. Wir müssen weiter. Die Kinder setzen die Masken wieder auf und sortieren die Tabletts in den Wagen.

Who cares

Es ist Sonntagmorgen, kurz vor acht. Ich drehe mich noch einmal im Bett um und denke, wie so oft, über einen neuen Text nach; es sind die Momente zwischen Wachen und Schlaf, in denen die Worte kommen. Aber dann schiebt sich plötzlich das Bild einer Waschmaschine dazwischen. Das Bild des Waschkellers, in dem sie steht. Gestern habe ich Wäsche gewaschen und sie dann vergessen, seitdem liegt sie in der Trommel, und sie wird weiter dort liegen, egal, wie viele Worte ich noch denke. Also stehe ich auf. Also gehe ich runter und kümmere mich darum, weil ich es nicht wieder vergessen will zwischen all den Dingen, die mir an einem Sonntagmorgen so durch den Kopf ziehen.

Who cares?

Schreiben. Wäsche. Sätze. Einkaufen. Worte. Putzen. I. hat auch diesen Samstag wieder Frühdienst, und auch diesmal wird sie später kommen, müde, erschöpft, der Kopf brummt. Ich mache ihr die Käsespätzle im Ofen warm, wir sitzen eine Weile zusammen am Tisch, eine goldene Novembersonne steht im Fenster, der Staubsauger liegt im Wohnzimmer, die Katze beschnuppert einen vollen Wäschekorb. Am Morgen, H. schläft noch, schreibe ich zwischen den Bissen ins Brötchen den Einkaufszettel, ich lasse sie fernsehen, während ich mich mit dem Rad auf den Weg zum Supermarkt mache. Ich schwitze, die Maske nimmt mir die Luft, in der Obst- und Gemüseabteilung werde ich ruhiger. An alles denken, alles im Blick haben, auch die kommende Woche. Was hat H. gerne auf ihrem Schulbrot? Was kann ich kochen? Auf der Rückfahrt weiß ich, dass ich etwas vergessen habe, weiß aber nicht, was es sein könnte.

Who cares?

Zuhause der Berg Wäsche im Bad, Schmutzränder im Waschbecken, Staubflusen unter dem Schreibtisch. Waschmaschine. Putzlappen. Staubsauger. In Pennsylvania zählen sie noch immer Stimmen aus. Ich trinke ein Glas Orangensaft. Bibi Blocksberg erweckt einen Dinosaurier zum Leben. Noch diese Folge, dann ist Schluss. Liebevolle Ermahnungen, es braucht ja Regeln, gemeinsame Regeln, etwas Orientierung. Ich packe Wäsche in die Maschine, ich bereite die Käsespätzle zu, muss nochmal los für einen Salat. CNN meldet weitere Stimmen aus Georgia für Biden. Ich bin müde, gereizt. H. hat kein Interesse an Wald und raschelnden Blättern, sie jagt ihre imaginären Pferde durch den Garten. Also knie ich im Bad über der Wanne und sprühe den Kalkentfernen auf die Armaturen, Klopapier haben wir noch ausreichend. Der Livestream des open mike startet. Ich schaffe es gerade noch, eine vorbeihuschende Textidee hastig in ein Notizbuch zu kritzeln. Biden wird von CNN zum Sieger erklärt. H. schlägt mich das dritte Mal in Mühle, vor meinen Augen zerfließt das Spielbrett. Die Wäsche, die ich längst vergessen habe, liegt seit vier Stunden in der Trommel.

Gedichte, Kinderkram

Wie ein Fanatiker beharrte ich auf der Form, wenn es um Gedichte ging. Wie ein griesgrämiger Nörgler bemängelte ich, wenn es um Gedichte ging, immer und immer wieder: Aber das hat doch keine Form. Wie ein Besessener suchte ich nach einer Form, mit der ich leben könnte …

die ganze zeit schon
habe ich
ein
leben aus
tausend momenten
gelernt hab ich die
längste zeit
nichts
als dieses
konforme leben
können wir leben
du wie ich
und
ich wie du
können wir leben

(Fabian Schwitter, nicht ganz hundert / fünfzeiler)

Irgendwann, aber ich kann den Zeitpunkt doch ungefähr bestimmen (es war 2013), begann ich, diese fünfzeiler zu schreiben. Vielleicht erscheinen sie mickrig – ein bisschen kümmerlich vor dem Hintergrund dieser hochtrabenden Diskussion um die Form in Gedichten. Bestimmt erscheinen sie mickrig, auch wenn oder vielleicht gerade weil ich mit ihnen nichts Geringeres als die Rettung der Welt verbinde. Naja, wenigstens meine eigene … Sie sind in ihrer Klonhaftigkeit, wie ein Schwarm oder eine Bakterienkultur, vielfältig, so vielfältig und facettenreich, nur leicht nuanciert voneinander abweichend, dass ich mich gar nicht entscheiden kann, welcher mir hier als Beispiel genügt. Und eines Tages schrieb ich dann in meine Notizen:

Das meine ich mit Lebensform. Das ist meine Lebensform. – Ich sitze in der Strassenbahn, lese ein wenig und notiere kurz drei [Hervorhebung F.S.] Fünfzeiler, während mein Sohn schläft. Ich brauche dabei kaum nachzudenken und kann die knappe Zeit locker und erfüllend nutzen. Ich denke so, ich bin so – ich arbeite. (27.07.2019, aus den Notizen)

Form reflektiert den Rahmen (Unity of Type) meiner Bedingungen (Conditions of Existence) und ich lebe in der Form meiner Rahmenbedingungen. Seit 2015 gehört in diesen Rahmen auch ein Kind ist Teil der Bedingungen:

die ganze zeit schon
bist du mein
kind
bin ich doch
die ganze zeit schon
sage ich gehörst
du mir mein
kind
bist du ein
mensch unter vielen
ein leben lang sind
du und ich
kind
und kinder
werden wir zum glück

 

2 x 2 Skizzen über Zeit

Ich komme ungern zu spät. Meistens radle ich so zeitig los, dass ich mir Zeit nehmen kann, obwohl ich sie eigentlich nicht habe. Auch als das Auto mich trifft, bin ich nicht besonders schnell. Ich fahre auf dem Radweg, das Auto kommt von rechts und schiebt mich zwei Meter weit auf die Fahrbahn. Es geht unglaublich langsam, und ich bin viel zu erstaunt, als dass mein Leben an mir vorüberziehen könnte, oder was in einem solchen Moment sonst passieren müsste. Als das Auto endlich bremst, kippe ich nach vorn. Wie ich aufstehe und mein Rad auf den Gehweg schiebe, daran habe ich keine Erinnerung. Ich weiß aber noch, wie ich mir die Mütze vom Kopf reiße und den Autofahrer anschreie: „Ich fasse es nicht! Sind Sie verrückt? Ich habe zwei kleine Kinder!“ Dann setze ich mich auf den Gehweg und weine.

*

Meine engste Freundin kommt aus dem Westen. Sie hat zwei Geschwister, und ihre Mutter war immer zu Hause. Damals, während des Studiums, als wir uns anfreundeten, kam mir das ungeheuerlich vor. War das nicht – ich fand dafür nicht einmal die richtigen Worte: faul? Langweilig? Komplett verschenkte Zeit? Meine Mutter hat bis zur Rente lohngearbeitet. Wahrscheinlich lag es nicht nur daran, dass sie auch an den Abenden und den Wochenenden nicht zur Ruhe gekommen ist. Auch jetzt, als Rentnerin, ist sie immer auf den Beinen. Malt mit meinen Kindern. Schlägt die Zeitung auf. Geht in die Küche, um schon mal die Kartoffeln zu schälen. Holt einen Artikel, den sie für mich ausgeschnitten hat. Ich kenne sie nicht als eine Frau, die sich in die Dinge versenkt.

*

Der Autofahrer, der mich umgefahren hat, wartet eine Woche nach dem Unfall vor dem Institut, an dem ich Kreatives Schreiben unterrichte. Obwohl ich nicht verletzt war, haben wir Adressen ausgetauscht, und anhand meines Namens hat er meine Kurszeiten herausgefunden. Er entschuldigt sich noch einmal und hält mir einen Umschlag hin. Ich lehne ab, er insistiert: „Nehmen Sie es für Ihre Kinder.“ Ich wäge ab. Ich schätze, dass in dem Umschlag 100 Euro sind. Von 100 Euro kann ich für zwei Monate mein Schreibatelier bezahlen. Der Autofahrer ist mir sympathisch, trotzdem will ich ihn für seine Unaufmerksamkeit bestrafen. Oder nein: Ich will ihm nicht das Gefühl geben, dass Geld alle Dinge regelt. „Ich verstehe Sie“, sagt er. „An Ihrer Stelle würde ich auch ablehnen.“ Er steckt den Umschlag ein und geht davon.

*

Letzte Woche war ich so erschöpft, dass ich beschlossen habe, ein paar Tage nicht ins Atelier zu gehen. Ich mache die Wäsche, bestelle Passfotos für den Großen, der traurig ist, weil Mats sein Bild von der KiTa-Garderobe gerissen hat, suche nach einem Fahrradhelm für den Kleinen. Wie meine Mutter springe ich von einer Tätigkeit zur nächsten, und abends bin ich genauso erschöpft wie nach einem Schreibtag. Trotzdem treffe ich mich noch mit meiner Freundin, wie immer reden wir über die Kinder. Damals, als wir uns anfreundeten und noch keine Ahnung hatten, was Elternsein bedeutet, haben wir oft über unsere Eltern geredet. Ich erinnere mich an vieles, was sie mir erzählte. Wie sie Ostern mit ihren Eltern bei einem dreistündigen Gottesdienst sitzen musste. Wie sie schon als Jugendliche begann, das Leben ihrer Mutter abzulehnen. Wie sie zum ersten Mal schwanger wurde und mit ihrem Vater telefonierte. „Du gehst dann aber schon wieder arbeiten, oder?“, sagte er am Telefon zu ihr. „Bitte mach es nicht wie die Mama.“

An die Last II

Streptin, 18.09.2020

Guten Morgen, Last,

immer noch krank. Ich klicke mich durch Wikipedia und Oprah.com und lese die beeindruckenden Biografien von Musikerinnen wie Aretha Franklin, Tina Turner oder Mary J. Blige. Staune, was sie geschafft haben. Wie sie stoisch an ihrer Passion festgehalten haben. Sich nicht abbringen ließen, vom Musik machen und vom Veröffentlichen. Wie sie vier Söhne geboren und groß gezogen haben, sich von demütigenden Männern befreit und sich neu verliebt haben.
Ob sie auch manchmal im Halbdunkel saßen und sich fragten, ob sie jetzt mal das Fotobuch anfangen für das eine oder andere Kind, weil sie sonst den Überblick über die Kinderjahre verlieren, wenn sie dies noch länger aufschieben? Oder was sie als nächstes bei ebay-Kleinanzeigen reinstellen, damit die Wohnung wieder ein bisschen leerer wird? Woher nahmen sie die Fähigkeit sich zu fokussieren, ohne Menschen zu verprellen? Oder haben sie? Ist das vielleicht gar nicht so schlimm? Nicht immer alles und alle mitzudenken? Auch mal arrogant oder ignorant zu wirken? Unsicher zu sein?
Jetzt bin ich schon länger als 40 Jahre auf dieser Welt und immer noch nicht klar. Hadere mit mir und den Menschen. Ja, ich lerne immer weiter dazu und verlerne bewusst Dinge, die mir nicht gut tun, und bin trotzdem gefühlt nicht weiser. Immer wieder verzettele ich mich, will zu viel gleichzeitig machen, finde alles interessant und fange dies und das an, mache es dann aber nicht zu Ende. Naja, manches schon. Oder ich bleibe wenigstens dran. Vieles verläuft sich aber im Sande. Oder ist schlichtweg zu anstrengend.
Was ist denn das für eine Luxus-Misere, in der ich mich da befinde? Lieber Schnauze halten? Ist doch alles ganz normal? Mit Tina Turner will man doch nicht tauschen. Diese Entbehrungen. Häusliche Gewalt und wer weiß, was noch alles. Oder Aretha. Hat mit 12 ihren ersten Sohn geboren. Mit 14 den zweiten. Was hat das wohl mit ihr gemacht?
Ich glaube, sie waren tapfer. Ich bin es nicht so richtig.
Du, Last, bist jedenfalls immer noch da.

Tschüss
Lena

Fieber

Zwei Dinge glaubten wir besiegt zu haben: die Grippe und den Winter. Wir waren alle zusammen mit dem Fahrrad nach Feggendorf gefahren. Patrick mit den beiden Kindern im Anhänger. Ich leicht wie nie auf meinem neuen weißen Mountainbike (Pacific). Das Bergauffahren bereitete mir keine Mühe. Ich hatte mir die lange Strecke in den Kindergarten, aufsteigend bis zum Wald, unüberwindbar vorgestellt. (Patricks Weisheit: „Mit einer guten Gangschaltung ist alles möglich.“) Oben angekommen: schwerer Abschied. Ich ahnte nicht, dass B. krank war.
Erst als ich ihn nach dem Mittagsschlaf ins Wohnzimmer holte, er war auf dem Nachhauseweg eingeschlafen, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Er weinte, ließ sich nicht beruhigen. Ich durfte ihn kaum berühren. „Das tut weh!“ „Aber was? Was tut dir weh?“ Reglos lag er im Schneeanzug auf der Ofenbank. Ausziehen durfte ich ihn nicht. Das Gesicht glühte, der Kopf. 40 Fieber. Er war doch gerade erst gesund gewesen. Waren wir am Morgen mit der Gewissheit aufs Fahrrad gestiegen, der Frühling wäre jetzt da, fielen nun vor dem Fenster dicke Schneeflocken. Sie wirbelten feierlich vom Himmel herab durch die Sonne, als würde es zum ersten Mal in diesem Winter schneien. B. lag schnell atmend auf dem Sofa. Patrick saß am Fußende, ein Buch in der Hand. Ich hatte H. bei mir, der lächelte und, wie immer, so glücklich war darüber, am Leben zu sein. Wir waren alle zusammen in diesem Wohnzimmer. Die Welt schien noch weiter von uns wegzurücken. Der Schnee vereinte Sicht und Geräusche. Und als Patrick von seinem Buch aufsah, lächelten wir uns zu, in dem geteilten Gefühl einer großen Veränderung, die wir beide gespannt inmitten dieser großen Ruhe erwarteten. Ich schaute mir B. an. Er schlief. Seine geröteten Wangen. Sein weißes Haar. Die vorgewölbte Oberlippe. Der flackernde Atem, der die Zerbrechlichkeit jeder Gewissheit in unser Wohnzimmer trug, uns wachsam bleiben ließ, unsere Sinne schärfte für das, was leicht versinkt und dann nie wieder heraufzuholen ist.
Festhalten, dachte ich, festhalten!

Meisenknödel

Aufmerksamkeit, Tadel, Zucker – die Problemstellungen, mit denen sich moderne Eltern tagtäglich auseinandersetzen müssen, sind vielfältig. Wann ist es genug, wann es ist es zu viel? Ist ein Bild zu schwach, bleibt der Zusammenhang oft unklar. Ist die Metapher zu dick, droht schnell das Klischee. Auf unserem Hinterhof steht eine Vogeltränke, ich erzählte bereits davon. Eine Nachbarin versorgt damit vermeintlich verdurstende Vögel. Dass es einen Fluss in der Nähe gibt, ist unerheblich. Dass sich die Kinder das wertvolle Wasser regelmäßig ausschütten, ein Ärgernis. Die Tränke bleibt. Und nicht nur das: Die Äste einer Forsythie biegen sich ganzjährig unter dem Gewicht der daran befestigten Meisenknödel. Jungvögel, muss man wissen, sind auf Subventionen aus Menschenhand nicht angewiesen – sie kommen mit von den gefiederten Eltern beständig herbeigeflogenen proteinreichen Insekten gut durch die ersten Monate. Im Gegenteil: Am Knödelbruch können die Kleinen ersticken, fettreiches Futter zwar schlucken, jedoch kaum verdauen. Vogelsnacks sind für den Winter gedacht, im Sommer wirkt das Übermaß fatal. An den Polkappen zergehen die Eismassen, in unserem Hinterhof schmelzen die Meisenknödel. Das darin enthaltene Fett tropft auf die Beete und fängt an zu schimmeln. Die Forsythie leidet, die Nachbarin hängt eifrig nach. Wann ist es genug, wann es ist es zu viel? Hinter unserem Haus, zwischen Mülltonnen und Fahrradständern, hat sich poetischer Raum aufgetan – darin gedeiht die treffendste Metapher der Welt. Sie leuchtet so grell, dass kein Text sie fassen kann, und doch ist es möglich, sie zu übersehen. Wie unschuldig die Kinder neben ihr spielen.

Regen

Man konnte das nicht essen nennen. Kay löste ein paar Krümel in Speichel auf, das war alles. Wenn es so weiter ging, würde sie sich eines Tages in Luft auflösen, so dünn war sie. Und wenn sie einmal ernsthaft krank würde, Influenza zum Beispiel – ein, zwei Tage, dann würde man sie künstlich ernähren müssen.
Draußen regnete es. Peters Tag war nicht gut gewesen. Auch die letzten Lesungen waren jetzt abgesagt worden. Der Verlust ging in die Tausende.
„Iss“, sagte Peter.
„Papa?“, sagte Kay.
„Nimm jetzt das Brot und beiß rein, verdammt!“ Peter schob den Teller näher an sie heran. Sie benutzte immer noch ihren Stufenstuhl, obwohl sie, mit Unterlage zumindest, längst auf einem normalen Stuhl hätte sitzen können.
Christine sagte, das seien die Rituale. Kinder brauchten ihre Rituale. Sie hielten an allem fest, solange es ging. Das mochte sein, aber sie vergaßen auch herzlos schnell. Peter hatte Kay heulen sehen wie ein Schlosshund, als sie ihre Lieblingspuppe Juliane verlor. Als drei Tage später noch einmal die Rede von ihr war, konnte Kay sich kaum an sie erinnern.
Kay schob den Teller von sich weg, schaute zur Decke und sagte: „Es regnete und ein schöner Abend floss durch die Wohnung.“
Peter sah sie an. „Wie bitte?“, fragte er.
Kay beugte sich vor, nahm das Leberwurstbrot vom Teller, drehte es in der Hand und musterte es von allen Seiten.
„Was hast du gerade gesagt?“, fragte Peter.
„Ich hab Pippikackapups gesagt“, sagte Kay.
„Hey, nicht am Tisch!“, rief Christine aus dem Wohnzimmer.
„Nein“, sagte Peter, „du hast ‚Es regnete und ein schöner Abend floss durch die Wohnung‘ gesagt! Wo hast du das her? Aus der Kita?“
Kay ließ die Schnitte los. Sie fiel und landete mit dem Wurstbelag zuunterst auf dem Teller.
„Mensch!“, sagte Peter und drehte die Schnitte um.
„Darf ich aufstehen?“
„Nein! – Stopp! – Hiergeblieben!“ Aber sie war seiner Hand ausgewichen und ins Wohnzimmer entkommen.
Peter griff nach dem Block. Das musste er notieren. Für Kay, für später. Damit sie eines Tages lesen könnte, was sie gesagt hatte. Aber er wollte es auch seinem Kumpel Frank erzählen, der auch Vater war. Und seiner Schwester, Kays Patentante.
Aber das war nicht alles.

Morsezeichen zwischen Fürsorge und Text. Chronik einer Schreibresidenz mit Engel

Eins ist die erste Woche mit Kindern im Stipendium. Sie kommen, um zu bleiben. Wie das so ist mit Kindern. Corona hat der Vereinbarkeitslüge ihr letztes Hemd vom Leib gerissen. Was bleibt, sind die Kinder und ich.
Der Engel ist schon da. Mit weit ausgebreiteten Flügeln geht er durch die Räume und lächelt. Sein Lächeln gleicht einer Wolke. Die Haare fallen ordentlich und gerade auf den Rücken, wie Regen, der in langen Tropfen vom Himmel fällt. Er trägt eine Schürze. Der Engel ist schon so lange da. Er hat kein Geschlecht, aber wenn ich ihm eines geben müsste, dann das einer Frau. Der Engel hat das Haar, die Finger, das Lächeln, und auch den gütigen Blick einer Frau.

*

Überhaupt diese Nächte, und vier, sie tragen mich durch die Tage, an denen ich wie eine Alkoholikerin nur auf den Abend warte, um mir die Worte hinter die Binse zu kippen, ich sehne mich nach den Momenten, an denen meine Finger über die Tastatur fliegen, die Arztpraxen geschlossen sind und selbst Zecken schlafen. Meine Nächte sind süß und immer steigt ein Kind zu mir in den Traum und wenn ich dann wach werde, liegt sein kleiner Körper neben mir, mit all seiner Wärme und diesem Geruch nach Ewigkeit, den nur Kinderkörper verstreuen können, Atemzug um Atemzug. Und ich weiß, dass es richtig ist, dass die Kinder hier sind, dass es so sein muss, denn nur so hat endlich auch die Zerrissenheit ein Ende, das hier und dort sein, mental load auf Distanz, wer holt jetzt die Kinder aus der Schule während ich in der Schreibresidenz bin, wenigstens das hat ein Ende.

*

Siebenmal drehe ich den Kaiserschmarren in der Pfanne. Der Teig klebt. In der Residenz gibt es kein Zimt und keinen Zucker. So ist das eben, wenn man nur vorübergehend irgendwo wohnt. Alles fehlt, Zimt und Zucker, die richtige Pfanne, vor allem die Waschmaschine, ruft der Engel dazwischen. Den Schmarren schmeiße ich in den Müll und drehe die Hemden der Kinder einfach auf die andere Seite. Ich hole einen Apfelkuchen aus dem Tiefkühlfach und stecke eine Kerze drauf. An diesem Tag habe ich zehn Seiten geschrieben, das tröstet mich und macht mich glücklich, denn wenn ich zu Hause bin, dann backe ich selbst den Kuchen, dann wasche ich, putze, räume auf und schreibe nicht.

*

Acht Uhr ist schon lange vorbei und er hat Tränen in den Augen. Ehrlich Mama, ich habe nur mit dem Steinmonster gespielt, so und so und so. Er macht die Bewegungen nach, lässt das Monster nochmal über den Nachttisch gleiten, es hüpft über die Lampe. Das muss der Moment sein, an dem das Monster den Lampenschirm zerschlug.
Ich seufze, schüttele den Kopf. Mein Kind fängt wieder an zu weinen.
Wenn man in einer Schreibresidenz mit seinen Kindern ist, dann muss man dazu auch die richtigen Kinder haben. Sie müssen brav sein und stillhalten können und nichts kaputt machen. Sie müssen gut erzogen sein, wie Schreibresidenzkinder, die sich woanders so benehmen, als wären sie nicht zu Hause. Nicht dort, wo sie rumtoben können, wo auch mal was kaputt gehen kann, weil man ist ja zu Hause ist. Am besten, man hat keine Kinder, dann kann auch nichts kaputtgehen, in der Schreibresidenz wird dann nur geschrieben, wie es sich gehört. Das findet auch der Engel.

Auszüge aus einem längeren Prosatext

An die Last

Streptin, 17.09.2020

Hallo Last,

ich weiß jetzt, dass Du neuerdings einen Namen hast: mental load. Und dass Du es bist, die mich krank gemacht hat. Nicht ich, sondern Du bist Schuld. Ich habe eine chronische Sinusitis, weil ich nicht nein sagen kann. Wegen Dir. Die Selbstdiagnose liegt klar auf der Hand. Ich kann sie genau sehen. Aber ich kann nicht erkennen, an welcher Stelle ich das Knäuel auflösen soll.
Nach dem Lockdown, der sich erst einmal befreiend anfühlte, weil nach und nach alle Verabredungen und Termine abgesagt wurden, türmen sich die alten, jetzt nachzuholenden und die neuen Termine über mir auf. Wie eine Ozeanwelle. Auf ihrem Peak schwimmen aber nicht verrottender Müll und Plastikteile, sondern die Termine. Sie verharren für eine Sekunde über mir, bilden einen Schatten, in dem ich stehe. Dann stürzen sie auf mich ein.
Alles ist irgendwie wichtig. Keiner der Termine ist nun aufschiebbar. Alles muss gemacht werden: sich getroffen, verabredet, besprochen, die Ausstellung aufgebaut, die Workshops geplant, das Kind zum Schwimmunterricht gebracht, Geburtstagsgeschenke ausgesucht, das Bad geputzt, Zuständigkeiten verteilt. Doch jetzt liege ich seit Tagen auf dem Sofa herum, weil ich mich nicht anstrengen darf, hat die Ärztin befohlen. Die Wohnung ist unordentlich. Bett nicht gemacht. Tisch nicht abgeräumt. Berge schmutzigen Geschirrs, trotz Geschirrspüler. Wenigstens die Waschmaschine wäscht.
Ich habe kürzlich Das Loch von Simone Hirth gelesen. Sie hatte die Idee, Briefe zu schreiben. An Leute, aber auch an abstrakte Dinge. Um sich ihrer Situation bewusst zu werden. Etwas mehr Klarheit zu erlangen. Für sich zu reflektieren. Das erschien mir sehr einleuchtend. Ein kluges, berührendes Buch. Eine großartige Idee! Ich habe das hiermit auch versucht. Es fühlt sich ganz gut an.

Danke, kluge Simone.
Nicht danke, blöde Last.

Deine Lena